Die ersten Menschen machen sich jetzt auf, um das Fest der Liebe bei ihren Liebsten zu verbringen. Wir reisen ganz politisch korrekt mit der Bahn, das dauert länger als mit dem Flugzeug und es kann viel mehr passieren. Viele gestresste Menschen auf engstem Raum, kämpfend um den letzten nicht reservierten Sitzplatz. Einige haben schlechte Manieren, andere sind ebenso selt- wie unterhaltsam. Überlege dir eine schöne Reisegeschichte!
Auf Achse mit Oma
"Oma, ist das da der Weohnachtsmann?"
"Psst Fritzchen, man zeig nicht mit nacktem Finger aud angezogene Leute!"
"Aber Oma, der sieht genau so aus, wie in meinem Bilderbuch, der weiße Bart, der dicke Bauch, ein roter Pullover und da am Haken neben ihm hängen ein roter Mantel und eine rote Mütze mit Troddel."
"Jetzt sei doch ruhig, die Leute gucken schon. Wie würde es dir denn gefallen, wenn der ganze Großraumwagen über dich lacht?"
"Ixh fände das toll, hier gicken alle so böse, gar nicht, als würden sie sich auf Weihnachten freuen. Nur der Weihnachtsmann da drüben..."
"Fritzchen, schau doch mal in dein Bilderbuch, der Weihnachtsmann hat doch einen Rentierschlitten, der braucht doch gar nicht mit dem ICE fahren. Das würde auch viel zu lange dauern, da käme er ja gar nicht rechtzeitig zu allen Kindern."
"Und wenn der Rentierschlitten kaputt ist oder die Rentiere Corona haben?"
Aus der Sitzreihe hinter ihnen hörte Ilse Wiegand leises Kichern. Wie hatte siie sich nur überreden lassen können, ihren Enkel zu betreuen, während der Kindergarten wegen Corona geschlossen war, und ihn dann zum Fest zu seinen Eltern zurückzubringen? Hatte ihre Tochter Petra auch je so viele Fragen gestellt? Sie konnte sich nicht erinnern.
"Guck mal Oma, jetzt holt er einen Lebkuchenmann aus seiner Manteltasche, genau so einen, wie ihn der Weihnachtsmann in meinem Buch den Kindern mitbringt!"
"Aber der Weihnachtsmann würde die Lebkuchen für die Kinder doch nie selbst essen. Er hat ja auch gar keinen Sack mit Geschenken dabei."
Über der Sitzlehne vor ihnen erschien das Gesicht eines Mädchens ungefähr in Fritzchens Alter.
"Aber da vorne im Eingang steht ein ganz großer. Den hat er bestimmt dort hingestellt, weil er zu schwer war, um ihn ins Gepäckfach zu heben."
Eifrig nickte Fritzchen Ilse überlegte, ob dies der richtige Zeitpunkt war, um den Fünfjährigen die Wahrheit über Weihnachtsmann, Nikolaus,Osterhase und Zahnfee beizubrringen. Petra hatte an solche Fantasiegestalten nie geglaubt, dafür hatte sie schon gesorgt.
Inzwischen schienen alle Fahrgäste in ihrer Nähe diesem Gespräch zuzuhören, nur der vemeintliche Weihnachtsmann bekam anscheinend nichts von den Problemen mit, die er alleine durch seine Anwesenheit verursachte. Er schüttelte ein paar Lebkuchenkrümel aus seinem weißen Bar, sah auf die Uhr und begann, sich seinen roten ;antel anzuziehen. Am Fenster zogen die ersten Häuser der letzten Stadt vor dem Halt vorbei, an dem Ilse und Fritzchen aussteigen mussten.
Während er sich die Bommelmütze auf dem Kopf zurechtrückte drängelte sich der Rotgewandete an den anderen Fahrgästen im Gang vorbei.
"Achtung, ich muss mein Gepäck beiseite räumen, sonst kommen Sie nicht durch die Tür."
Als er an ihnen vorbei kam, lehnte ersich kurz zu Fritzchen herunter und sagte leise "Hohoho". Dann stieg er aus dem Zug. Ilse sah ihm durch das Fenster nach, wie er seinen Sack den Bahnsteig entlang schleppte und irgendwann in der Menschenmenge verschwand. Zum ersten Mal wünschte sich Ilse, sie hätte sich ihren Kindheitsglauben erhalten.
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