Ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Ein paar Kinder spielen Fußball und eine alte Frau füttert die Enten am Teich. Ich sitze auf einer Bank und könnte mich eigentlich wohl fühlen. Die Sache ist nur die, ich habe ein kleines Problem.

In meiner rechten Manteltasche steckt ein blutbeflecktes Messer. Ich weiß nicht, wie es da hingekommen ist. Ich weiß nicht, woher das Blut kommt. Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber das Schlimmste ist, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

Die alte Frau wirft die leere Brottüte in einen Mülleimer und ich überlege mir, dass ich ihr vielleicht einfach folgen sollte. In einem langsamen Zuckeltrab spazieren wir dem Ausgang des Parks entgegen. Sie schaut nicht nach links und nicht nach rechts. Wie leicht könnte ich ihr jetzt die Handtasche entreißen und davonrennen. Wenn sie um Hilfe ruft, ist kaum jemand da, der ihr helfen könnte. Aber ich will mir ja nicht noch mehr Probleme einhandeln. Erst einmal muss ich herausfinden, was überhaupt passiert ist.

Wir kommen zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft und sie geht hinein, um Brot, Milch und ein paar Äpfel zu kaufen. Ich merke, dass ich Hunger und Durst habe. Aus dem Regal nehme ich eine Dose Bier, ein fertiges Sandwich und eine Schachtel Zigaretten. An der Kasse warte ich geduldig, bis meine unbekannte Freundin das nötige Kleingeld zusammengesucht hat. Dann ziehe ich einen Schein aus der Hosentasche und halte ihn der Kassiererin hin.

"Sie haben sich da verletzt", sagt sie. Ich sehe auf meine Hand und stelle fest, dass auch sie blutverschmiert ist. Aber ich spüre keinen Schmerz. Und im Grunde weiß ich, dass es nicht mein Blut ist, das da klebt. Sie nimmt den Schein, schaut ein wenig ungläubig und beginnt dann, das Wechselgeld herauszusuchen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihr einen Hundert-Euroschein gegeben habe. Ich greife nochmals in meine Hosentasche und fühle ein ganzes Bündel Scheine im gleichen Format.

Als ich den Laden verlasse, ist die alte Frau noch nicht weit gekommen. Sie verschwindet gerade um die nächste Ecke und ich habe keine Mühe, ihr zu folgen. Wir kommen an einem Zeitungskiosk vorbei. Während sie sich einige Zeitschriften kauft, studiere ich die Schlagzeilen der ausgelegten Tageszeitungen. Doch von einem spektaktulären Verbrechen ist nicht die Rede. Ist es noch zu früh?

Weiter geht es die Straße entlang. Ein Bus hält neben und spuckt eine Gruppe Menschen in Bürokleidung aus. Sie hasten und drängeln an uns vorbei und keiner beachtet mich. Ich bin nur einer von vielen. Solange man die Hand nicht sieht und das Messer, wird man mich für einen ganz normalen Passanten halten. Bis mein Bild morgen auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint.

Ich brauche ein Versteck, muss dringend irgendwo unterkriechen. Aber wo? Die alte Frau verschwindet in einem Hauseingang. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was ich als nächstes tun soll.

Die Straße ist belebt. Ich könnte mir ganz leicht jemand anderes zum Verfolgen suchen. Aber das wäre nicht richtig. Langsam überquere ich die Straße und setze mich in ein Wartehäuschen. Das Sandwich und das Bier fallen mir wieder ein. Ich mache mich darüber her und ziehe eine Zigarette aus der Schachtel. In meinen Taschen krame ich nach einem Feuerzeug, aber es ist keines da. Rauche ich etwa gar nicht? Aber warum habe ich dann nach den Zigaretten gegriffen?

Menschen hasten vorbei, keiner achtet auf mich. Ein Bus hält. Ein junges Mädchen steigt aus und kommt auf mich zu.

"Hast du eine für mich?", fragt sie und zeigt auf die Zigaretten. Ich halte ihr die Schachtel hin. Sie nimmt sich eine und setzt sich neben mich.

"Du hast da was", sagt sie und fährt mit dem Zeigefinger über meine Wange.

"Was denn?", frage ich.

"Sieht aus wie Blut. Hast du dich verletzt?"

Ich erschrecke.

"Wie heißt du denn?", fragt sie und ich starre nur leer vor mich hin. Wie heiße ich? Wer bin ich? Was habe ich getan? Um Himmels Willen!

"Weißt du nicht, wo du hin sollst? Ach komm, ich nehme dich mit zu mir."

Gehorsam folge ich ihr in eine Nebenstraße, die Treppen hinauf in den vierten Stock. Vier Namen stehen auf dem Klingelschild. Sie schließt auf und schiebt mich in ein Zimmer. Das Bett ist nicht gemacht. Kleider, Essensreste und Papiere liegen in einem wilden Durcheinander am Boden.

"Setz dich", sagt sie. "Ich hol uns ein Bier aus der Küche."

Ich nicke und lege mich einen Moment auf das Bett. Ich bin müde, so müde. Aber ich muss wach bleiben. Es ist keine Zeit zum Schlafen. Ich muss herausfinden, wer ich bin, was geschehen ist. Ich muss...

"…keine Sorgen machen. Ein heftiger Schlag auf den Kopf und ein schwerer Schock. Aber in ein paar Tagen wird er wieder völlig in Ordnung sein."

Ich öffne vorsichtig die Augen und blinzle in das grelle Licht der Neonlampe über mir. Wenn ich den Kopf drehe, sehe ich einen Mann in einem weißen Kittel und eine Frau. Auf einmal ist die Erinnerung wieder da.

"Bettina!", krächze ich.

"Na also", sagt der Kittelmann. "Da haben wir ihn ja wieder."

Dann lässt er uns allein.

"Ich bin Felix", sage ich stolz auf mein wiedergefundenes Gedächtnis.

"Ja", sagt Bettina nur, aber für sie ist das ja nichts besonderes.

"Da war ein Messer", sage ich. "Und Blut."

"Die Polizei sagt, du hast der Frau das Leben gerettet. Hättest du dem Kerl nicht das Messer abgenommen, hätte er sie umgebracht."

Noch weiß ich nicht genau, was das zu bedeuten hat, aber irgendwie hört es sich beruhigend an.

"Dafür hat er dir dann eins übergezogen."

Auch das scheint Sinn zu machen.

"Hattest du was mit dieser Anna?", fragt sie und sieht mich vorwurfsvoll an.

"Anna?", frage ich verwirrt.

"Die Studentin, bei der du zusammengeklappt bist."

Dunkel erinnere ich mich an eine Bushaltestelle, vier Treppen und ein schmutziges, unordentliches Zimmer. Aber das gehört jetzt zu einem anderen Leben.

 

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