Liebster,

endlich habe ich eine Möglichkeit gefunden, Dir mitzuteilen, wo ich geblieben bin. Vielleicht kannst Du Dir schon denken, daß wir nach Deutschland gegangen sind, um Asyl zu beantragen, vielleicht denkst Du aber auch, man habe uns alle verschleppt und umgebracht. Ich wünschte, Du hättest mit uns kommen können. Aber unsere Flucht war so geheim, daß nicht einmal wir Kinder vorher davon wußten.

Am sechsundzwanzigsten nachts weckte mich meine Mutter, ich sollte warme Kleider anziehen, so viel wie ich nur eben konnte und das nötigste zusammenpacken. Viel konnten wir nicht mitnehmen. Vermutlich haben die Soldaten inzwischen unser Haus geplündert. Ich weinte und wollte zu Dir, aber meine Eltern zerrten mich einfach mit. Wir fuhren mit einem Laster zum Hafen, dort kamen wir auf einen Frachter, zusammen mit neun anderen, Mama, Papa, Pierre, Helen, Matthieu und ich, fünfzehn Personen. Fünf davon noch ganz kleine Kinder. Wir mußten uns im Laderaum verstecken.

Die Überfahrt war ein Alptraum, die Kinder plärrten die ganze Zeit, es stank erbärmlich, wir hatten kaum genug zu trinken und zu essen und dazu die ganze Zeit die Angst, was wird wenn wir in Deutschland ankommen. Endlich konnte Papa uns erklären, was eigentlich geschehen war.

Die Untergrundbewegung in der er mitarbeitete ist verraten worden. Das wirst Du inzwischen sicherlich erfahren haben. Aber hast Du geahnt, daß meine Eltern im Widerstand aktiv waren? Seit Jahren haben sie an Plänen zum Sturz des Regimes mitgearbeitet. Wer weiß, ob sie eines Tages Erfolg gehabt hätten. Jetzt ist erst einmal wieder jede Hoffnung zerstört. Papa wurde zum Glück rechtzeitig gewarnt, aber viele werden dieses Glück nicht gehabt haben. So konnten wir entkommen.

Auf der Reise verlor ich jedes Gefühl für Zeit. Als wir schließlich in Deutschland ankamen, waren wir alle krank vor Hunger und Durst und von all dem Dreck im Laderaum. Mama hatte hohes Fieber und der kleine Matthieu war so schwach, daß wir glaubten, er würde es nicht überleben.

Die Stadt in der wir ankamen heißt Bremerhaven. Sie liegt am Meer wie unsere Heimatstadt. Viel mehr habe ich nicht über diese Stadt erfahren. Gleich nach unserer Ankunft übergab uns der Kapitän des Frachters den deutschen Behörden. Papa sagte auf Französisch, daß wir Asyl beantragen wollten. Aber der Beamte verstand ihn nicht. Er schrie uns auf Deutsch an, so daß wir furchtbare Angst bekamen.

Ich dachte immer, die Beamten in Europa sind anders als bei uns. Mama konnte sich kaum auf den Beinen halten und ich schleppte Matthieu und hatte die Zwillinge am Rockzipfel. Und eigentlich hätte doch jeder sehen müssen, daß wir dringend Hilfe brauchten. Schließlich brachten sie uns zu einem Arzt. Mama und Matthieu kamen sofort ins Krankenhaus. Wir durften nicht mit, sondern wurden in ein Heim gebracht, wo viele Menschen untergebracht werden, die in Deutschland Asyl suchen.

Dort hatten wir wenigstens erst einmal eine Bleibe. Ein kleines Zimmer mit drei Etagenbetten. Dazwischen kaum Platz um sich umzudrehen. Aber wir bekamen auch endlich wieder zu essen und zu trinken. Wir Kinder durften das Heim nicht verlassen. Papa blieb den ganzen Tag weg. Er mußte zu den Behörden, um den Asylantrag zu stellen. Dann durfte er endlich auch Mama im Krankenhaus besuchen.

Als er zurückkam sah er schon viel fröhlicher aus. Mama hatte eine Lungenentzündung, aber die Medikamente die sie im Krankenhaus bekam halfen, und es ging ihr schon wieder besser. Auch Matthieu ist inzwischen wieder bei uns. Mit seinen zwei Jahren hat er die Krankheit schnell überstanden, und inzwischen tobt er schon wieder mit den anderen Kindern hier herum.

Inzwischen läuft unser Asylantrag. Nachdem Mama und Matthieu aus dem Krankenhaus entlassen waren, kamen wir nach Bremen. Hier leben wir in einem anderen Heim. Inzwischen wissen wir, daß hier längst nicht alles so rosig ist, wie sie Zuhause immer erzählen. Wer aus unserem Land kommt, hat kaum eine Chance als Asylbewerber anerkannt zu werden. Papa wird hier auch nicht als Lehrer arbeiten können, seine Ausbildung reicht hier nicht aus. Mama als Dolmetscherin hätte vielleicht eine Chance.

Meine Tage hier sind eintönig. Die Zwillinge gehen wenigstens jeden Tag in die Schule und Matthieu hat hier im Heim schon viele Freunde gefunden. Für Kinder ist es einfacher. Hier dürfen wir zwar raus, aber was soll ich dort draußen? Wir haben kein Geld, um irgendwohin zu gehen. Ich möchte gerne Deutsch lernen, aber wo finde ich einen Kursus?

Ich habe mich mit Suzanne angefreundet, sie kommt aus unserer Gegend, und wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Doch heute ist ihr Bescheid gekommen, der Asylantrag wurde abgelehnt. Sie kann jeden Tag zurückgeschickt werden. Das ist schlimm für sie. Ihre ganze Familie ist von der Diktatur umgebracht worden. Sie hat niemanden, an den sie sich wenden kann.

Ich gebe ihr diesen Brief mit, in der Hoffnung, daß sie ihn Dir irgendwie schicken kann. Ich darf ihr ja nicht einmal Deine Adresse aufschreiben, denn wenn sie bei ihrer Ankunft durchsucht wird, geratet Ihr beide in Gefahr. Vielleicht kannst Du ihr ja irgendwie helfen? Sie ist eine so liebe Freundin, und ich bin sicher, Ihr werdet Euch verstehen.

Liebster, die Zeit drängt, es gibt noch so vieles, was ich Dir gerne sagen würde, aber mehr als dieses eine Blatt Papier kann ich nicht riskieren. Ich wünschte, wir wären jetzt zusammen an unserem geheimen Platz am Strand. Ich vermisse Dich so. Ich vermisse auch unsere Stadt, die Freunde, die Wärme. Hoffentlich sehen wir uns irgendwann wieder.

In Liebe 
Marie

 

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