„Wenn du das nicht sofort zurücknimmst, bringe ich dich um!”

Sieglinde Wetterstein zuckte in ihrem Krankenbett zusammen. Ganz deutlich waren die Worte durch die offene Balkontür zu ihr gedrungen. Sieglinde wusste nicht, wer im Nachbarzimmer lag und auch sonst hatte sie von ihren Mitpatienten noch niemanden gesehen. Wann immer sie versuchte, ihr Zimmer zu verlassen, kam eine der Schwestern und brachte sie zurück. „Tüdelig“ sei sie und liefe manchmal weg und fände dann den Heimweg nicht. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihre Tochter die Pflegekräfte instruiert hatte. Nicht einmal ihre geliebten Krimis hatte sie zum Lesen mit ins Krankenhaus nehmen dürfen, „die regten sie nur auf“ sagte ihre Tochter, und brächten sie nur auf dumme Ideen . Dann würde sie wieder die Polizei rufen und irgendwelche Räuberpistolen erzählen, die sich am Ende als völlig harmlos herausstellen würden. Stattdessen stapelten sich jetzt Fürstenzeitungen und Romanheftchen auf ihrem Nachttisch.

 Aber diesmal nicht. Sie hatte es doch eindeutig gehört. Nebenan in Zimmer 619 hatte jemand gedroht, jemand anderen zu ermorden. Dieser Ausruf war so laut gewesen, dass sie ihn hatte hören können. Jetzt sprachen sie drüben wieder so leise, dass sie nichts als ein Murmeln hörte. Sie musste sich einfach näher heranpirschen. Entschlossen schlüpfte Sieglinde in Hausschuhe und Bademantel und betrat vorsichtig den Balkon. Bisher hatte sie sich noch gar nicht hinaus gewagt. Genauer gesagt, hatte sie sich immer ein wenig  vor diesem praktischen Zugang für alle Arten von Ganoven gefürchtet. Jetzt sah sie, dass zwar auch das Nachbarzimmer einen Balkon besaß, aber zwischen diesem und ihrem eigenen befand sich ein Mauervorsprung, der höchstens einem Kind oder einem Magersüchtigen Durchschlupf gewährte. Ihr selbst versperrte es auf jeden Fall den Blick auf die Personen, die sich immer noch in gedämpfter Lautstärke unterhielten.

 „Verdammt, 50.000 € habe ich dir inzwischen gezahlt. Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein!“

Vor Schreck wäre Sieglinde fast durch die offene Balkontür zurück ins Zimmer gefallen.

„Schluss ist, wenn du genug für das gebüßt hast, was du verbrochen hast. Lass es mal meine Sorge sein, wann das der Fall ist. Und jetzt verzupf dich, ich will schlafen!“

„Du wirst noch erleben, was du davon hast.“

Schwere Schritte entfernten sich. So schnell sie es ohne ihren Rollator schaffte, eilte auch Sieglinde zu ihrer Zimmertür, aber natürlich kam sie zu spät. Weit entfernt in der Mitte des Flurs sah sie eine große, kräftige Gestalt in Motorradkluft zu den Fahrstühlen eilen. Halbherzig folgte Sieglinde noch einige Schritte, doch es kam, wie es kommen musste, schon schoss eine der Schwestern aus ihrem Zimmer auf sie zu.

„Frau Wetterstein, wie oft sollen wir Ihnen denn  noch sagen, dass Sie ohne Hilfe ihr Zimmer nicht verlassen sollen?“

„Ja, aber… haben Sie den Mann da eben gesehen? Der plant etwas! Der will jemanden…“

 „Frau Wetterstein! Haben Sie gestern etwa doch den „Tatort“ geschaut? Ihre Tochter hat doch gesagt, sie sollen schön „Traumschiff“ gucken“

„Ich bilde mir doch nichts ein! Da erpresst der Eine den Anderen und jetzt will der Andere den Einen um die Ecke bringen. Ich habe es doch laut und deutlich gehört.“

„Aber dafür gibt es doch sich eine ganz harmlose Erklärung. Wie spät ist es denn? Jetzt laufen doch die ganzen Vorabendkrimis. Bestimmt haben Sie nur den Fernseher gehört. Jetzt gehen Sie schön in Ihr Zimmer, gleich gibt es Abendessen. Wenn es Sie beruhigt, sehe ich mal nach Ihrem Zimmernachbarn. Das ist ein ganz netter junger Mann. Der erpresst sicher niemanden.“

 Sieglinde ließ sich widerstrebend zurück zu ihrem Bett führen. Warum behandelten sie nur immer alle, als hätte sie einen kleinen „Dachschaden“? Hätte die Polizei öfter auf ihre Hinweise gehört, wäre die Aufklärungsrate in der Stadt sich besser. Von nebenan drang eine lachende Männerstimme zu ihr. Natürlich stritt der angeblich so nette junge Mann jetzt alles ab. Klar, dass der nicht alles zugab, dann wäre er ja selbst auch dran wegen der erpressten 50.000 €, die wollte er doch sicher behalten. Missmutig knabberte Sieglinde an ihrem Käsebrot und schaltete dabei zwischen den verschiedenen Fernsehprogrammen hin und her. Nichts als Fußball, als gäbe es nichts wichtiges mehr auf der Welt! Von nebenan dröhnte von Zeit zu Zeit der Lärm einer dieser neumodischen Tröten. Nun gut, dann war der Erpresser wenigstens noch am Leben und einen Grund sich zu fürchten, schien er auch nicht zu sehen. Langsam dämmerte Sieglinde in einen Halbschlaf hinüber.

 Es war dunkel im Zimmer geworden, als Sieglinde wieder aufwachte. Überall war es still. Gleich beim Aufwachen fiel Sieglinde alles wieder ein. Sie schaltete das Licht ein und lauschte angestrengt. War der Mörder inzwischen zurückgekommen und hatte sein Werk vollbracht? Sie musste Gewissheit haben. Auf  bloßen Füßen tappte sie zur Zimmertür und lugte vorsichtig hinaus. Auf dem Flur war niemand zu sehen und am anderen Ende des Flures brannte ein Licht, als Zeichen, dass sich die Nachtschwester dort aufhielt.

Glück gehabt! So schnell sie konnte, schlich sich  Sieglinde zur nächsten Tür und öffnete sie vorsichtig. Alles war still. Merkwürdig – oder auch nicht merkwürdig? Hatte sie sich  nicht seit Tagen  über das Schnarchen aus dem Nachbarzimmer geärgert, das selbst nicht durch die dicke Wand zu überhören gewesen war?  Noch einmal sah sich Sieglinde auf dem Flur um, ob nicht inzwischen die Schwester wieder unterwegs war. Nein, es war immer noch alles still, aber da, dicht an die Wand gerückt, standen zwei Krankenbetten. Einem Impuls folgend schlich sie sich näher an diese heran.

Das erste war abgedeckt und auf dem Laken befand sich die Aufschrift „Rein“. Sieglinde wollte schon erleichtert umkehren, als die über dem Kopfteil des zweiten Bettes, das ein Stück weiter am Flur stand, etwas verdächtiges entdeckte. Ungläubig pirschte sie sich heran und starrte entsetzt auf die Umrisse eines menschlichen Körpers, die sich deutlich unter dem Laken mit der Aufschrift  „Unrein“ abzeichneten. Es war also bereits geschehen, vor dem sie gewarnt hatte – und anstatt es zu verhindern, hatte sie alles verschlafen. Schreiend brach Sieglinde auf dem Bett zusammen.

„Vielen Dank, dass Sie sich so schnell um meine Mutter gekümmert haben“ Lächelnd gab Gesine Wetterstein dem jungen Mann aus Zimmer 619 die Hand..

„Keine Ursache. Wenn ich bedenke, dass meine kleine Rollenprobe für das Vorsprechen beim Krimidinner nach meiner Entlassung morgen die Ursache für den Zusammenbruch Ihrer Mutter war, wird mein Gewissen schlechter und schlechter.“

„Es war aber auch ein seltsamer Zufall, dass ausgerechnet in dieser Nacht dieses Bett eines entlassenen Patienten noch hier stand, in dem die Bettdecke so verwurschtelt war, dass sie unter dem Laken wie ein menschlicher Körper aussah.“

„An Ihrer Stelle würde ich besser aufpassen, dass sich Ihre Mutter weniger Krimis im Fernsehen anschaut. Und wenn ich die Rolle wirklich bekomme und sie wieder gesund ist, nehmen Sie sie doch mal mit zu diesem Krimidinner, da geht es auch darum, dass der kriminelle Anschein öfter trügt, als man denkt.“

Gesine nickte. Aber jetzt hatte sie erst einmal ein anderes Problem, sie musste Sieglinde davon überzeugen, dass ihre Geistererscheinung aus der vergangenen Nacht in Wirklichkeit quicklebendig war. 

 

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