"Verehrtes Publikum, wir kommen jetzt zur großen Entscheidung. Wer wird diesmal unser Beachgirl des Jahres? Hier sehen sie noch einmal unsere sieben Finalistinnen."

Lena verstand kein Wort von dem, was der Mann da auf der Bühne erzählte. Hier stand sie mit den anderen Mädchen, mit denen sie noch vor wenigen Tagen im Sand gespielt hatte. Ein schöner Urlaub war es gewesen. Bis zu dem Tag, als auf einmal der große bunte Zettel an dem schwarzen Brett in der Eingangshalle hing. 
"Eine Schönheitskonkurenz!" Hatte Mama gerufen. "Für Mädchen zwischen fünf und acht Jahren. Erster Preis eine Woche Urlaub im Ferienclub für die ganze Familie." Und Papa hatte begeistert über ihre Locken gestreichelt.
"Man, hab ich ein Glück, dass ich ein Junge bin." Hatte ihr großer Bruder Lars gemurmelt, so leise, dass die Eltern es nicht gehört hatten. Aber Lena hatte es gehört, und sie hatte sich gefragt, warum Lars das sagte. Es war doch schön, wenn alle so viel Wirbel um einen machten. 
Papa hatte sie auf seine Schultern gehoben, und dann waren sie zu Dritt zu dem großen starken Mann gegangen, der immer so alberne Spiele mit den Erwachsenen machte. Rudi hieß er, hatte Lars ihr erzählt. 
"Das ist unsere Lena." Hatte Papa gesagt. "Sie wird im Oktober sechs Jahre alt. Wir möchten sie zu der Schönheitskonkurenz anmelden." 
Rudi hatte Lena angestrahlt und genickt. "Ach die armen anderen Kindern, bei so einer Schönheit haben die ja gar keine Chance mehr!" Dann hatte er Mama und Papa ein paar Fragen gestellt und gesagt, "Bis Freitag dann." 
Was, Freitag erst? Hatte Lena gedacht? Und "Was Freitag schon?" Hatte Mama ganz entsetzt gerufen. "Das ist ja schon übermorgen. Wie sollen wir sie denn bis dahin ausstaffieren?" Aber Rudi wusste Rat. "Sie kennen doch unsere Kinderboutique. Da finden sie alles, was sie für Lenas großen Auftritt brauchen." 

Lena wollte jetzt wieder an den Strand zu den anderen Kindern, aber Mama hatte sie gleich in den Laden geschleppt. Dann hatte sie angefangen, zwischen all den Kleidern zu wühlen. Zu Hause durfte Lena nie ein Kleid anziehen. 
"Das machst du bloß dreckig!" Sagte Mama immer. Aber jetzt konnte sie gar nicht genug kriegen von den ganzen Rüschen und Falten. Lena langweilte sich.
Schließlich hatte Mama das richtige Kleid gefunden. Grün war es, mit einer weißen Bluse und einer Schürze vor dem Bauch. "Dirndl heißt das." Sagte Mama. "Das haben in Bayern alle kleinen Mädchen an." 
So ein Quatsch, dachte Lena. Dass das nicht stimmte wusste sie ja sogar schon. Aber Mama war nicht mehr zu bremsen. Sie kaufte gleich noch ein paar fürchterlich enge Lackschuhe, und ein grünes Band für Lenas Haare. Dann war es Zeit zum Mittagessen.

Lars bekam Spaghetti und Mama und Papa aßen Schnitzel. Lena wollte auch Nudeln essen, aber Mama sagte, dann würde sie nicht mehr in das schöne neue Kleid passen. Also bekam sie einen Salat. Lena hasste Salat. Lars grinste die ganze Zeit und inzwischen dachte Lena, es wäre vielleicht doch gar nicht so schlecht ein Junge zu sein.

Am nächsten Tag wollte Lena wieder an den Strand gehen. "Nein," sagte Mama. "Da kriegst du einen Sonnenbrand. Wir setzen uns schön auf der Terrasse in den Schatten."
Die Terrasse war doof. Da gab es keine Kinder, nur ein paar langweilige Erwachsene, die überall rot waren. 
"Wann ist denn endlich Freitag?" Fragte Lena.
"Morgen, mein Schatz." Sagte Mama und strahlte in die Runde. "Sehen sie, meine Tochter kann es gar nicht erwarten, die schönste zu werden."
"Mumpitz", sagte ein dicker Mann. "Und wenn dann eine andere schöner ist, ist das Geschrei groß. Warum lassen sie das Kind nicht einfach Kind sein?"
"Sie haben ja keine Ahnung." Sagte Mama. "Was soll sie denn vormachen?" Fragte eine dünne alte Frau mit einem großen hässlichen Hut. Mama sah sie erschrocken an. "Was meinen sie damit?"
"Na, das gehört doch auch dazu. Singen, turnen, tanzen, erzählen."
Das hatte Mama offensichtlich noch nicht gewusst.
"Na ‚Alle meine Entchen' wird sie doch wohl noch können." Sagte der dicke Mann.
Lena sah ihn böse an. Sie war doch kein Baby mehr. Aber singen? Mama dachte offenbar das gleiche. Sie zerrte Lena aus dem Liegestuhl und eilte mit ihr in den Spielzeugladen. Nach wenigen Minuten hatte sie das richtige gefunden. Mit einem länglichen Paket eilten sie auf ihr Zimmer. 

"Du bleibst hier und wartest." Sagte Mama. "Ich gehe und hole Lars."
Lena ging auf den Balkon und sah auf die vielen Menschen unten am Strand. Warum konnte sie nicht auch dort mit den anderen Kindern spielen? Lars hatte auch keine Lust in das stickige Zimmer zu kommen. Aber das interessierte Mama nicht.
"Da!" Sagte sie und warf ihm das Paket zu. "Du bringst ihr jetzt bei, wie man ‚Alle meine Entchen' spielt. Du hast es ja schließlich auch gelernt."
Verstört guckte Lars auf die Blockflöte, die in dem Karton verpackt war.
"Das geht doch gar nicht! So schnell lernt das doch keiner."
Jetzt fing Mama auch noch an zu weinen. "Aber wenn sie nichts vormachen kann, dann gewinnt sie nicht. Und sie ist doch wirklich die schönste."
Inzwischen war auch Papa ins Hotelzimmer gekommen und zu viert überlegten sie, welches Lied Lena vorsingen konnte. Gemeinsam kriegten sie den Text von ‚Alle Vögel sind schon da' zusammen. Und dann musste sie singen und singen und singen.
"Verehrtes Publikum, ich kann nur sagen, dass ich froh war, dieses Jahr nicht in der Jury zu sitzen. Ich hätte nicht gewusst, wen ich hätte wählen sollen. Aber es kann immer nur eine Gewinnerin geben. Orchester, ein Trommelwirbel bitte!"
Lena zitterte. Sie musste so dringend mal aufs Klo, hoffentlich schaffte sie es noch rechtzeitig. Und die blöden Lackschuhe drückten und in der Hitze von den vielen Lampen lief ihr die Schminke über das Gesicht. Und die Hochfrisur, die Mama ihr gemacht hatte, löste sich sowieso schon längst auf. Wenn doch bloß schon alles vorbei wäre.
Dann würden sie noch eine Woche länger bleiben. Und Taschengeld hätten sie auch schon, hatte Papa gesagt, denn er hatte hundert Euro gewettet, dass Lena gewinnen würde. Davon würde sie jeden Tag ein großes Eis bekommen.
"Und unsere Siegerin ist, Elke Schmidt aus Kaiserslautern."

Lena fühlte, wie etwas nasses an ihren Beinen herunterlief.

 

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