"Hast du das letzte Nacht auch gehört? Schrecklich, wenn die Kleine so schreit. Ich würde mir am liebsten Watte in die Ohren stecken."

Ich nickte.

"Und sie die immer rumlauft, völlig verwahrlost. Als ich sie das letzte Mal sah, weißt du, damals, als wir den Schneesturm hatten..."

Schneesturm? Jetzt war doch Juni. Wann war denn das gewesen? Im März? Nein, im Februar. Und wenn ich so darüber nachdachte, hatte auch ich die Tochter meiner Nachbarn seitdem nicht mehr gesehen.

"Karl, ich glaube, da stimmt etwas nicht."

Verärgert darüber, dass ich ihn mitten im Satz unterbrochen hatte, schüttelte mein Mann den Kopf.

"Ach, du siehst schon wieder Gespenster. Was soll schon sein? Das Kind hat halt schlecht geträumt."

Während sich Karl wieder hinter seiner Zeitung vergrub, dachte ich an den Morgen vor vier Monaten, als wir das Kind nur mit einem Nachthemd bekleidet im eiskalten Treppenhaus gefunden hatten. Ich dachte an lange Ärmel im Hochsommer, einen dunklen Fleck (Schmutz?) auf einer Kinderstirn und ein verängstigtes Gesichtchen. War ich all die Monate blind gewesen, oder bildete ich mir nur etwas ein?

"Karl?"

Ein undeutliches Murmeln.

"Weißt du noch, wann der Neue von der da oben eingezogen ist?"

"Klar weiß ich das noch. Ostern letztes Jahr. Am heiligen Feiertag hat er angefangen, ihre Möbel aus dem Fenster zu schmeißen, damit er mehr Platz hatte. Und als die Polizei kam, hat er gesagt, sie wäre es gewesen. Aber am nächsten Tag hatte sie dann den Arm in Gips und ein blaues Auge."

"Und keiner hat etwas unternommen", murmelte ich.

"Was denn unternehmen? Die ist doch selber Schuld, was holt die sich denn auch so einen Kerl ins Haus? Kann ihn doch rausschmeißen."

Auf dem Heimweg vom Supermarkt blickte ich zu den Fenstern im ersten Stock. Die Gardinen waren zugezogen, wie fast immer in der letzten Zeit. Die Blumen auf dem Balkon mussten auch mal wieder gegossen werden. Komisch, sonst hatte die es doch immer so mit ihren Pflanzen gehabt.

"Ob wir nicht lieber die Polizei rufen?"

"Bist du verrückt? Da handeln wir uns nur Ärger ein. Ein Hinternvoll hat noch keinem Kind geschadet."

"Aber du denkst auch, dass die Kleine vor Schmerz geschrieen hat?"

Einen Moment lang überlegte er.

"Vielleicht hast du recht, das klang schon ziemlich verzweifelt. Aber wenn du schon anrufen musst, sag denen wenigstens nicht deinen Namen. Nicht dass der Kerl uns demnächst im Dunkeln begegnet."

Ich nahm den Hörer und wählte die Nummer des Notrufs. Während ich von merkwürdigen Geräuschen aus der Wohnung über mir erzählte, dachte ich an ein kleines Mädchen, das in Hamburg qualvoll verhungert war. Ich dachte auch an ein anderes Kind, das vom neuen Freund ihrer Mutter bis zur Unkenntlichkeit verprügelt wurde und das dann an seinen schweren Verletzungen gestorben war. Und immer hatten die Nachbarn weggesehen.

"Wir werden uns darum kümmern. Sagen Sie uns doch bitte Ihren Namen, falls wir noch weitere Fragen haben."

Ich legte ohne ein weiteres Wort auf. Während ich das Mittagessen kochte, schaute ich immer wieder aus dem Fenster, ob schon ein Streifenwagen zu sehen war. Endlich trafen sie ein. Durch den Spion beobachtete Karl, wie zwei Beamten in den ersten Stock stiegen. 

"Die haben sich aber nicht besonders beeilt. Bin gespannt, ob der da oben auf macht."

Ich schüttelte den Kopf und lauschte. Karl öffnete die Wohnungstür einen Spalt breit, um besser hören zu können, was sich tat. 

"Frau Holm? Ist alles in Ordnung?"

Laut schallte die Klingel durch das Treppenhaus, und nun hämmerten die Beamten gegen die Tür.

Dann kam der eine hastig wieder die Treppe herunter und klingelte bei unserem Nachbarn, dem Hausmeister.

Karl hatte die Tür wieder herangezogen. Trotzdem hörten wir noch die aufgeregten Stimmen im Treppenhaus.

"Haben Sie einen Schlüssel? Da ruft jemand um Hilfe und es macht keiner auf!"

Mehr wollte ich nicht hören und sehen. Ich verzog mich ins Wohnzimmer, während Karl weiter durch den Spion sah. Aber auch dort hörte ich das Martinshorn des Krankenwagens und die aufgeregten Stimmen der Schaulustigen vor dem Fenster. Vorsichtig warf ich einen Blick durch die Gardine und schauderte zurück. Endlich war wieder alles ruhig. Karl war in seine Lieblingskneipe gegangen, um seinen Kumpels vom Stammtisch haarklein die Sensation des Tages zu berichten. 

Aber wenn ich seit diesem Tag die Augen verschließe, sehe ich eine schwer verletzte Frau auf einer Trage und einen Kindersarg, die aus dem Haus getragen werden.

 

Besucherzähler Homepage