Ich glaube, in jeder Familie gibt es jemanden, den im Grunde niemand so richtig ausstehen kann, weil er den anderen ständig als Ideal vorgehalten wird, das niemand anderes erreichen kann. In meiner Familie hieß diese Person Onkel Alfons.

Alfons war der ältere Bruder meines Vaters. Ich hatte ihn noch nie gesehen, denn er war vor meiner Geburt nach Australien ausgewandert. Vater sprach nie über Alfons. Oma hatte mir erzählt, dass die beiden sich schon als Kinder nicht ausstehen konnten. Aber warum das so war konnte mir niemand erklären.

Aber gerade die Tatsache, dass das Thema Alfons bei uns zu Hause Tabu war, machte diesen Onkel für mich so interessant. Immer wieder sah ich mir bei meinen Großeltern die Fotos von Alfons an. Oma hatte auch alle seine Kinderbilder aufgehoben. Onkel Alfons hatte schon früh künstlerisches Talent entwickelt.

"Eigentlich wollte Alfons ja Künstler werden," erzählte Oma, "aber Opa bestand darauf, dass er etwas ordentliches lernte. Wenn er bei seinen Noten schon nicht studieren wollte, sollte er wenigstens eine Banklehre machen."

Und dabei zeigte sie mir das letzte Foto von Onkel Alfons, das ihn vor dem Portal der Sparkasse am Markt zeigte, in der er seit seiner Ausbildung gearbeitet hatte. Onkel Alfons sah wirklich klasse aus, viel besser als mein Vater, von dem es erheblich weniger Fotos gab. Schade nur, dass mein Onkel nie ein Foto aus Australien geschickt hatte. Ich hätte zu gerne gewusst, wie er inzwischen aussah. Und heimlich beschloss ich, ihn zu besuchen, sobald ich volljährig war und genügend Geld zusammengespart hatte.

Es war in dem Jahr, in dem ich vierzehn wurde. Inzwischen war es fünfundzwanzig Jahre her, dass Onkel Alfons Deutschland verlassen hatte, und immer öfter sprach Oma davon, wie gerne sie ihren ältesten noch einmal wiedersehen würde. Im März wurde Oma achtzig und plötzlich wünschte sie sich eine Reise nach Australien.

"Bist Du verrückt?", sagte Opa. "In Deinem Alter noch den langen Flug, das verkraftet Dein Herz doch gar nicht."

Dabei wechselte er einen entsetzten Blick mit meinem Vater. Oma bekam davon nichts mit. Noch am selben Tag ließ sie sich von ihrem Hausarzt bestätigen, dass sie für die Reise gesund genug war.

"Und wenn Du Angst hast mitzukommen," sagte sie zu meinem Opa, "dann fährt eben die Ina mit. Die freut sich bestimmt."

Ich sprang vor Freude fast bis an die Decke. Natürlich wollte ich mitkommen. Genau wie Oma fieberte ich nun dem Geburtstag entgegen, würde sie ihren Wunsch erfüllt bekommen? Zu mir hatte niemand ein Wort gesagt.

Endlich war der große Tag gekommen. Am Nachmittag saßen alle um die große Kaffeetafel versammelt, meine Eltern, meine Tante Hanni mit ihrem Mann, meine Cousine Petra und ich. Nur Onkel Alfons fehlte natürlich.

"Jetzt ist es Zeit die Geschenke auszupacken!", rief Oma, aufgeregt wie ein kleines Kind. Ich merkte, wie die Erwachsenen betretene Blicke tauschten.

"Mama," sagte Papa, "ich weiß, dass ist nicht das, was Du Dir gewünscht hast. Aber wir haben gedacht, dass es besser so für Dich ist."

Oma riss den Briefumschlag auf, in dem sie wohl das Flugticket nach Australien vermutet hatte. Ungläubig starrte sie auf den Inhalt.

"Zwei Wochen Kur in Berchtesgarden?" Noch nie hatte ich meine Oma so wütend erlebt. "Was soll ich denn in Berchtesgarden? Ich will meinen Sohn noch einmal sehen. Könnt Ihr das denn nicht verstehen?"

Opa versuchte sie zu beruhigen. Sie hätten doch Alfons genaue Adresse gar nicht. Australien sei groß. Wie Oma ihn denn dort finden wollte. Und überhaupt Australien!

Ich war mindestens genau so enttäuscht wie Oma. Zu oft hatte ich mir inzwischen ausgemalt, wie wir Onkel Alfons besuchen würden. Aber an mich dachten die Erwachsenen gar nicht. Sie waren sogar so in ihren Streit vertieft, dass sie das Klingeln an der Tür überhörten. Schließlich ging ich öffnen.

Fragend sah ich den Mann an, der vor der Tür wartete. Irgendwie hatte er ja eine gewisse Ähnlichkeit... Aber das bildete ich mir doch bestimmt nur ein.

"Guten Tag, gnädiges Fräulein," sagte er und strahlte mich an. "Wohnen Sie jetzt hier? Ich wollte eigentlich zu Herrn und Frau Piepenbrink."

"Das sind meine Großeltern," sagte ich geschmeichelt. "Und wer sind Sie?"

"Aber ich bin doch der Alfons!", sagte er. Wahnsinn, er war es wirklich. Ich lief voraus ins Wohnzimmer, wo die anderen immer noch stritten.

"Oma, rat mal wer gekommen ist! Wir brauchen gar nicht mehr nach Australien fahren!"

Oma fiel vor Freude fast in Ohnmacht. "Alfons, Du bist es wirklich!"

Merkwürdig, außer ihr schienen sich nur Petra und ich zu freuen. Papa, Tante Hanni, ja selbst Opa sahen verlegen und ärgerlich aus. Oma merkte es nicht. Alfons bekam den Ehrenplatz am oberen Ende der Kaffeetafel und das größte Stück von der Geburtstagstorte.

"Erzähl mal, Junge! Wie ist es Dir denn in Australien ergangen? Wo warst Du überall? Bist Du inzwischen Bankdirektor? Hast Du geheiratet? Warum hast Du denn nie geschrieben? Und wo wohnst Du denn überhaupt?"

Alfons erzählte von seiner Farm, von seiner Frau und den Kindern, die leider nicht mitkommen konnten, weil ja jemand die Tiere versorgen mussten. Und die Jungs waren natürlich in der Schule.

"Oh Alfons, wie schön, endlich habe ich auch Enkelsöhne! Deine Geschwister haben es ja nur zu Mädchen gebracht."

Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben

"Und eine richtige eigene Farm! Dein Bruder wohnt natürlich immer noch in einer Mietwohnung. Nicht mal zu einem Reihenhaus hat er es gebracht. Aber unser Wolfgang war ja noch nie so tüchtig wie Du."

Papa wurde abwechselnd käseweiß und knallrot.

"Hast Du denn Fotos?"

Natürlich hatte Alfons Bilder mitgebracht. Von seiner Farm, seiner Frau, den Söhnen, seien Tieren, seinem Auto, seinem Privatflugzeug.

"Toll sieht Deine Sue-Ellen aus. Das nenne ich Figur, Hanni, da kannst Du Dir aber eine Scheibe abschneiden. Und Du auch," sagte Oma zu meiner Mutter. In ihrem Eifer merkte sie gar nicht, wie wütend sie alle gemacht hatte.

Papa stand auf und gab Oma die Hand. "Tschüß, Mama, war nett. Papa, ich ruf Dich morgen an. Hanni, wir sehen uns."

Auch Tante Hanni machte Anstalten aufbrechen. Oma sah betreten in die Runde.

"Aber das könnt Ihr doch nicht machen, das ist doch Alfons, Euer Bruder!"

Papa sah Alfons lange herablassend von der Seite an.

"Wenn er wieder aufgetaucht ist, wird die Unterschlagung von damals wohl inzwischen verjährt sein. Da werden wir ihn wohl noch öfter zu sehen kriegen."

Mit diesen Worten verließ er das Haus. Mama eilte hinterher. Nur ich warf noch einmal einen Blick zurück. Oma sah aus, als verstände sie die Welt nicht mehr. Zwei Jahre später ist sie gestorben und trotz allem was sie damals gesagt hat, war ich darüber sehr traurig. Onkel Alfons habe ich nie wiedergesehen, und ich bin auch nie nach Australien gefahren.

 

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