"Und hier hast du also deine Kindheit verbracht? Ich habe es mir gnz anders vorgestellt, nicht so friedlich."


Ich blicke mich scheu um. Seit 40 Jahren war ich nicht mehr hier und doch weckt der Anblick jedes einzelnen Millimeters in diesem Haus bei mir die alte Panik - mehr als das Zusammentreffen mit Mama vor einer Stunde.


"Du weißt ja, was ich hier erlitten habe. Vermutlich würde ich es auch harmlos finden, wenn xich nicht wüsste..."


Jeder Muskel in meinem Körper schreit, lauf weg, bevor es zu spät ist. Ich weiß, sie kann nicht mehr in der Küchentür auftauchen und doch erwarte ich jeden Moment, sie zu sehen. Aber Claudua hat Recht, wenn ich mich jetzt nicht den Schatten meiner Kindheit stelle, komme ich nie darüber hinweg.


Vorsichtig folge ich Claudia durch den Flur zum Wohnzimmer. Überall hängt der Geruch nach Mottenkugeln. Claudiahat nur einen flüchtigen Blick um sich geworfen und beginnt, die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Dort, wo mein Kinderzimmer war - und die Luke in der Decke, die in die Hölle führte, in der ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe. 


"Kommst du mal? Wie geht denn das auf?!


Ich schleiche in Zeitlupe nach oben. Claudua steht unter der Luke mit der Stange in der Hand, mit der Mama immer das Tor zur Hölle geöffnet hat.


"Ich gehe da nicht rauf."


"Natürlich nicht, Liebste, aber ich muss erst das Schlimmste sehen, bevor ich dir helfen kann."


Der alte Mechanismus funktioniert noch, wir müssen nur lange genug an dem verrosteten Riegel rütteln. Dann klappt die Luke auf und die verstaubte Leiter fällt herunter. Ich sehe zu, wie Claudia hinaufklettert und fühle im Geite die Schläge, die Mama mir damals mit der Stange versetzt hat, wenn ich nicht schnell genug oben war.


Claudia bleibt an der Luke stehen und sieht sich offenbar um.


"Du liebe Güte, allein um das hier aufzulösen werden wir Wochen brauchen."


Sie bewegt sich von der Luke weg und ich habe Angst um sie. Aber natürlich passiert nichts. Die alte Frau in ihrem Zimmer im Pflegeheim wird hier nie mehr ihr Unwesen treiben. Schwester Agathe sagt, sie hat jede Erinnerung verloren. Und doch? warum hat sie mich dann Andrea genannt?


Schließlich wage es ich doch, die Leiter hinaufzusteigen und über den Rand in die Bodenkammer zu blicken. Claudua betrachtet einige der Kisten und Kartons, ohne sie zu öffnen und nähert sich dabei immer mehr meinem damaligen Zufluchtsort, die Ecke ganz hinzen links unter der Dachschräge, über der ein kleines Fenster war. Licht fällt keines mehr hinein. Dort in der siebten  Reihe von unten sind die neiden losen Ziegel. Papas und mein Geheimnis. Der Ort, an dem er mir Botschaften und kleine Geschenke hinterließ - zuletzt das Geld, um endlich dieser Hölle zu entfliehen. 


"Ist es hier?" 


Claudia bückt sich herab und findet schnell die richtigen Ziegel. Ob Mama sie wirklich nie entdeckt hat? War sie nach meinem Verschwinden je wieder hier oben? Ich schlucke und sehe zu, wie meine Frau durch den schmalen Spalt tastet.


"Du, da ist etwas!"


Ist das ein Witz? Eine uralte Tafel Schokolade oder ein Tachenbuch? Warum hätte Papa das Versteck damals noch einmal nutzen sollen? Er ging doch davon aus, dass ich nie zurückkommen würde.


Langsam dreht sich Claudua um. In der Hand hält sie etwas, das ich im schwachen Schein ihrer Taschenlampe nicht erkennen kann.


"Was ist es?"


"Ein ziemlich dicker Schnellhefter. Mehr kann ich hier oben nicht erkennen."


Mir laufen Schauer über den Rücken. Was hat das zu bedeuten? Welche Überraschung hält Papa jetzt neun Jahre nach seinem Tod für mich bereit? 


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30.01.2024

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Wir sitzen uns in der Küche gegenüber, der Schnellhefter liegt zwischen uns auf dem Tisch. Ich sehe, wie sie darauf brennt, hineinzusehen, aber ich zögere noch. Jetzt und hier? Aber wenn nicht hier, wo dann? Vorsichtig ziehe ich die rote Pappe näher zu mir heran und schlage sie auf.


Was ich genau erwartet habe weiß ich nicht. Aber warum hat Papa mir das Foto einer unbekannten jungen Frau ins Versteck gelegt? Das Einzige, das mir bekannt vorkommt, ist ihre Kleidung, die Uniform der katholischen Mädchenschule, die auch ich besucht habe. Claudia beugt sich über den Tisch.


"Kennst du die?"


"Nein, ich habe sie noch nie gesehen."


Ich blättere die Klarsichtfolie, in der das Bild steckt, um. Dahinter ist ja noch mehr - eine verblichene Kopie eines Dokumentes. Kaum wage ich den Text zu lesen, aber was hilft es? Das Dokument beurkundet die Geburt von Andrea Maria Meyer, Tochter von Josef und Katharina Meyer unter dieser Adresse am 26.08.1970, knapp 22 Jahre vor meiner Geburt.


Ich drehe den Schnellhefter um und schiebe ihn Claudia wortlos zu.


"Josef und Katharina? Das sind deine Eltern, oder?"


Die Adresse - auch wenn Meyer der häufigste Nachname in Deutschland ist, sie muss meine Schester sein. Was hat das zu bedeuten? 


"Sie haben mir nie von einer Schwester erzählt. Auch der Name Andrea wurde nie erwähnt..


"Gibt es hier Fotoalben?


Ich schüttele den Kopf. "Fotos waren Teufelszeug. Mama hat nie zugelassen, dass wir uns fotografieren lassen. Und die Nonnen in der Schule haben auch keine Schulfotos elaubt.


Claudia deutet auf die Rückseite des Fotos gegenüber der Geburtsurkunde.


"Da hast du es, Andrea "Didi" - Schulabschliss."


Ob Papa das Foto heimlich hat aufnehmen lassen? Was ist danach aus ihr geworden und was will Papa mir aus dem Grab zurufebn?


Und ich blättere weiter. Claudia ist auf meine Seite des Tisches gerutscht und wir sehen gemeinsam auf die Klarsichtfolie mit der nächsten Kopie. Es ist ein uralter Zeitungsausschnitt, in dem über einen grausamen Mord in Australien berichtet wird. Ein junges Paar, das noch nicht identifiziert werden konnte. Die Polizei sucht Personen, die Angaben zu ihrer Identitöät machen können. Sie nannten sich Sean und Didi und hinterlassen zwei Babys, eineiige Zwillinge, kleine Mädchen  von etwas über einem Jahr.


Fragend sehen Claudia und ich uns an.


"Didi, das ist doch der Name in Anführungszeichen..."


Sie blättert zurück und ja, sie hat Recht. Das kann doch kein Zufall sein.  Oh meinGott, dann starb sie auf so grauame Weise. Aber was wurde aus den Babys? Wenn Papa den Zeitungsausschnitt aufbewhrt hat, wusste er doch von den Enkelkindern. Warum haben sie sie nicht zu sich geholt? Vermutlich wollte er sie vor Mama schützen. Noch ist der Groschen nicht gefallen.


"Du sag mal, da steht, dass der Mord am 07.12.1993 geschehen ist." Erwartungsvoll sieht sie mich an. Und endlich beginne ich zu begreifen, knapp ein Jahr und drei Monate nach meiner Geburt. Oh mein Gott. Claudia nimmt mich in den Arm und blättert die vorletzte Klarsichtfolie um.


Eine Urkunde, die eine anonyme Adoption durch Mama und Papa belegt. Die Adoption eines Mädchens namens Barbara, mein Name. Ich schreie vor Verzweiflung und Fasungslosigkeit. Schreie mir den Frust der letzten 33 Jahre aus dem Leib. Anonym? Warum anonym? Er wusste doch, wer ich bin. Und was wurde aus meiner Schwester? Noch immer schreiend blättere ich zur letzten Klarsichtfolie um.


Zwei kleine Mädchen, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Sie sitzen in zwei Buggys in der Abfertigungshalle eines Flughafens und haben offenbar gerade furchtbar geweint. Auf der Rückseite des Fotos steht "Barbara und Pamela - das letzte gemeinsame Foto".


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01.02.2024

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Mir wird schlecht. Seit Jahren habe ich nicht mehr an diese Alptraum gedacht, der mic, solange ich hier lebte, verfolgte.


Aus irgendeinem Grund ist die Welt um mich herum sehr rot. Ich weiß nur, dass ich vor irgendetwas entsetzliche Angst habe. Ich höre eine mir vertraute Stimme schreien, Babsi, Pemsi, nein, nicht die Kinder" und weiß. Neben mir steht ein ganz kleines Mädchen, das genau so entsetzlich weint, wie ich. Und dann wache ich auf.


Bisher habe ich gedacht, sie sagt Pemsi, so ist es also Pamsy für Pamela.  Meine Schwester - eine Zwilligsschwester. Und die Stimme meiner richtigen Mutter. Ich habe den Mord an meinen Eltern geträumt. Wo war mein Vater? Schon tot? Vor Tränen bin ich blind. Claudia hat den Shnellhefter zu sich herangezogen.


"Das ist das Unfassbarste, was ich je gehört habe. "


"Ich muss sie finden, wie kann ich sie finden?"


Aus der Adoptionsurkunde geht nichts hervor, sie ist in Australien ausgestellt. Aber es war eine anonyme Adoption. Gehen wir davon aus, dass deine Mutter die Tochter deiner Adoptiveltern war, vielleicht ist sie bei der Familie deines Vaters aufgewachsen."


Sie hat Recht, so muss es sein. Aber wie soll ich sie dann finden? Sean soll er geheißen haben, so steht es in dem Zeitungsartikel. Aber wie viele Männer mit dem Namen Sean mag es auf der Welt geben oder damals gegeben haben? Ich habe ja keinen Nachnamen, selbst nur in Australien werde ich so keine Spur zu ihm und seiner Familie finden.


"Kennst du die Nachbarn?"


Ich werfe einen scheuen Blick aus dem Fenster. Als wir kamen habe ich nicht darauf geachtet. Ob die Singers immer noch nebenan wohnen? Die auf der anderen Seite sind sicher verstorben, sie müssten jetzt über 100 sein.


"Nicht besonders gut. Aber wir werden sie wohl fragen müssen."