Mit einem Seufzer der Erleichterung steige ich aus. Die Fahrt war anstrengend, es hat die ganze Zeit geschneit. Fröstelnd blicke ich zum Hotel. Ob er schon da ist? Seinen Wagen kann ich nirgends auf dem Parkplatz entdecken. Also greife ich meinen Koffer und sehe zu, dass ich ins Warme komme.

"Guten Tag, wir haben ein Doppelzimmer bestellt, auf den Namen Schlüter."
"Herzlich willkommen, Frau Schlüter. Sie haben Nummer Vierhundertzehn. Der Fahrstuhl ist da vorne. Das Zimmer ist im vierten Stock auf der linken Seite." 
"Ist mein Mann schon angekommen?"
"Nein, noch nicht."
Um so besser. Ich greife nach dem Schlüssel und mache mich auf den Weg. Das Zimmer ist traumhaft, ein breites Bett, eine gemütliche Sitzecke und im Bad eine Wanne mit Platz für zwei. Wenn ich mir das doch selber leisten könnte. Aber Walter ist großzügig. Wenn wir uns treffen ist immer alles vom Feinsten. Dafür verlangt er dann aber auch einiges. Ich packe meinen Koffer aus, das türkise Nachthemd, das Walter mir zu Weihnachten geschenkt hat lege ich auf das Bett. Das sexy Abendkleid hänge ich an die Schranktür, so dass er es gleich sieht, wenn er hereinkommt. Es ist ganz neu und genau so geschnitten, wie Walter es an mir mag.
Ein Blick auf die Uhr. Es ist bereits nach sieben. Verdammt, wo bleibt er denn? Er hat mir doch versprochen, bis sechs hier zu sein. Ich versuche ihn auf dem Handy zu erreichen, bekomme aber nur seine Mailbox. Was hat das zu bedeuten? Unterwegs hat er das Ding doch immer an. Ob Lore wieder Zicken gemacht hat? Wie ich seine Frau hasse. Warum verlässt er sie nicht endlich?
Was soll ich tun? Langsam bekomme ich Hunger, aber wir essen ja nachher zusammen. Also nehme ich erst einmal ein Bad, wenn Walter es will, kann ich das später auch noch einmal tun. Das Badesalz verströmt einen betäubenden Duft, das sanft sprudelnde Wasser wiegt mich im Takt zur leisen Musik aus versteckten Lautsprechern in einen seligen Halbschlaf. Eine Stunde später sitze ich im Bademantel auf dem Sofa.
Mein Blick wandert vom Zimmertelefon zum Fenster und wieder zurück. Er ist immer noch nicht da. Langsam werde ich unruhig. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich versetzt, aber bisher hat er noch immer angerufen, um sich mit einer lahmen Entschuldigung herauszureden. Ich greife zum Hörer und wähle die Rezeption. 
"Hier Schlüter, Zimmer Vierhundertzehn. Hat mein Mann vielleicht angerufen?"
Nein, es liegt keine Nachricht für mich vor. Wenn ich ihn wirklich liebte, würde ich mir spätestens jetzt ernsthafte Gedanken um ihn machen. Aber ich bin ja nur seine Bettgeschichte. Er ist ja ganz nett, aber mehr empfinde ich schon lange nicht für ihn. Als Privatsekretärin von Direktor Schlüter gehört es einfach zum Job, ihm auch an den Wochenenden zur Verfügung zu stehen.
Mein Magen knurrt. Auf was warte ich eigentlich noch. Ich schnappe mir die Speisekarte und bestelle das Beste und Teuerste, was ich darauf finde. Bis das Essen kommt blättere ich in der Hotelbeschreibung.
Im Keller gibt es ein Schwimmbad, schade, dass ich kein Badezeug dabei habe. Das ist wieder typisch Walter, warum hat er mir das nicht gesagt? Er weiß doch, wie gerne ich schwimme. Aber es gibt noch mehr Angebote, Massage auf dem Zimmer, kosmetische Behandlungen, einen Fitnessraum, auch ohne Walter wird es mir hier nicht langweilig werden.
Am nächsten Morgen bin ich früh wach. Von Walter fehlt noch immer jede Spur. Noch einmal versuche ich es auf dem Handy, aber ich bekomme wieder keinen Anschluss.
Ungeschminkt in Jeans und Rollkragenpullover breche ich auf. Die Dame an der Rezeption frage ich nach einem Geschäft, in dem ich einen Badeanzug kaufen kann. Ich habe Glück, gleich um die Ecke gibt es etwas, nicht gerade billig, aber Walter hat mir ja eine Kreditkarte gegeben, mit der ich alles bezahlen kann, was ich für unsere gemeinsamen Wochenenden brauche. 
Zunächst einmal stürze ich mich auf das Frühstücksbuffet. Walter besteht sonst darauf, alle Mahlzeiten auf dem Zimmer einzunehmen. Ohne ihn war ich noch nie in einem Hotel, mit einem solchen Angebot. Begeistert mache ich mich über die leckersten Kalorienbomben her. Dieses eine Mal brauche ich mir keine Vorträge darüber anhören, dass ich zu fett werde. 


Satt und zufrieden hole ich Winterstiefel und Mantel aus dem Zimmer. Draußen schneit es immer noch. Zum Glück muss ich heute nicht mehr zurück fahren. Der kurze Weg zum Geschäft tut mir gut. Wie ein Kind lehne ich den Kopf zurück und versuche mit der Zunge die Schneeflocken aufzufangen. Mir ist es egal, ob mir jemand dabei zusieht. Ich habe genug davon, überall die wohlerzogene, kultivierte Dame zu spielen. Bepackt mit einem aufregenden Zweiteiler kehre ich ins Hotel zurück. Nein, Direktor Schlüter hat sich nicht noch einmal gemeldet und ja, um fünfzehn Uhr kommt der Masseur und um siebzehn Uhr habe ich einen Termin bei der Kosmetikerin.
Ich ziehe meine Bahnen im Schwimmbad. Es ist voll, die meisten Gäste sind anscheinend Familien mit Kindern. Ein bisschen neidisch sehe ich zu, wie sie zusammen im Wasser toben. Ich hätte auch gerne Kinder gehabt, aber er hat es nie gewollt, denn dann hätte er ja Farbe bekennen müssen. Und überhaupt braucht er mich als rechte Hand, da hätte ich sowieso keine Zeit für ein Kind.
Warum habe ich mich nur so von ihm abhängig gemacht? Und jetzt? Was, wenn dies seine Art ist mir zu sagen, dass er genug von mir hat? Hat er vielleicht eine andere? Lore war nicht viel älter als ich jetzt, als unsere Affäre begann. Zehn Jahre ist es her!
Ich verdränge die unangenehmen Gedanken, wenn jetzt alles aus ist, will ich wenigstens dieses letzte Wochenende noch genießen.
Um zwanzig Uhr betrete ich in meinem neuen Abendkleid den Speisesaal. Ich spüre förmlich, wie sich alle Blicke auf mich richten. Masseur und Kosmetik haben mir gut getan. Mit hoch erhobenem Kopf folge ich dem Kellner zu meinem Platz.
"Entschuldigen Sie."
Ich blicke von meinem Eisbecher auf, aus dem ich gerade die letzten Tropfen gefischt habe. Vor mir steht ein Bild von einem Mann etwa in meinem Alter.
"Heute Abend ist doch Tanz hier im Hotel. Wie es aussieht, sind wir die einzigen Singles. Hätten Sie Lust, mit mir hinzugehen?"
Einen Versuch ist es wert. Er heißt Oliver und kommt aus Norddeutschland. Wir tanzen die halbe Nacht. Walter ist vergessen. Ich genieße Olivers Nähe und seine fröhliche Art.
Spät bringt er mich zu meinem Zimmer. Vor der Tür tauschen wir einen leidenschaftlichen Kuss, nicht mehr. Ein bisschen bedaure ich es, aber wir haben ja noch viel Zeit uns näher kennen zu lernen. 
Bevor ich mich schlafen lege, werfe ich noch einen letzten Blick auf mein Handy, auch wenn ich längst keinen Anruf mehr erwarte. Doch das Display zeigt, dass ich eine SMS bekommen habe.
"Ruf mich an, dringend"
Die Nachricht kommt von meiner Kollegin Sigrid. Sie muss gekommen sein, als ich mich gerade auf den Weg in den Speisesaal machte. Der Zauber ist vorbei. Ich kann nicht mehr schlafen. Die restliche Nacht liege ich da und male mir aus, was passiert sein könnte, denn dass diese Nachricht mit Walter zu tun hat, ist mir klar.
Früh am Morgen rufe ich Sigrid an. Walter ist auf der Fahrt hierher verunglückt. Er liegt im Koma. Die Ärzte haben nicht viel Hoffnung, dass er überleben wird. Ich muss zurück, denn als seine Sekretärin bin ich nun die Einzige, die Zugang zu wichtigen Unterlagen hat. 
In aller Eile schmeiße ich meine Habseligkeiten in den Koffer und mache mich auf den Rückweg nach München. Auf halbem Weg fällt mir ein, dass ich Oliver meine Adresse nicht gegeben habe. 

 

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