Um mich ist es dunkel. Es ist still. Alle schlafen. Nur ich finde keine Ruhe. Die Stille macht mir Angst. Ich bin es nicht gewohnt, alleine in diesem Haus zu sein. Gestern haben wir Hanne zu Grabe getragen, jetzt bin ich als einzige noch übrig. Warum muss ich meine jüngeren Schwestern überleben?
Mühsam drehe ich mich auf die Seite und suche im Dunkeln nach den Umrissen der Möbel. Aber das Vertraute ist weg.
"Aber Tantchen, so ist es doch viel bequemer für dich. Mit deiner Gehhilfe kommst du hier doch gar nicht mehr durch."
Er hat es ja gut gemeint, mein Neffe Alfons. Sogar zur Beerdigung ist er gekommen, obwohl wir zu seinem Vater, unserem einzigen Bruder, schon lange keinen Kontakt mehr hatten. Alfons hatte ich zuletzt als Steppke gesehen..
Wenn es nur nicht so still wäre. Wie vermisse ich einen tropfenden Wasserhahn, das Quietschen von Hannes Bett oder ihren röchelnden Husten. Wie soll ich in diesem Haus je wieder Schlaf finden? Aber fort von hier will ich auch nicht. Fünfundachtzig Jahre habe ich jetzt in diesem Haus verbracht, bin nie auch nur eine Nacht woanders gewesen. Hier bin ich geboren, und hier werde ich sterben, wenn meine Zeit gekommen ist.
Aber noch ist es nicht soweit. Da ist noch etwas, was ich vorher erledigen muss. Auf mein Wägelchen gestützt taste ich mich vor bis zum Fenster, gerade im rechten Moment. Für einen Moment reißt die Wolkendecke auf, und im fahlen Licht des Vollmondes erkenne ich hinter dem Holunderbusch einen Schatten. Er ist zurück gekommen.
Ich verberge mich hinter der Gardine und warte. Noch rührt er sich nicht, hockt nur unbeweglich da und wartet. Worauf? Ahnt er, dass ich noch wach bin? Hat er Skrupel bekommen? Will er ganz sicher gehen?
Ein bisschen mulmig ist mir jetzt doch. Mit zitternden Händen öffne ich das Geheimfach in der Fensterbank und nehme die Waffe heraus.
"Denk daran, Lörchen, dein Bruder ist ein schlechter Mensch. Er wird alles tun, um sich doch noch seinen Teil des Erbes zu holen." 
In Gedanken höre ich die Stimme meines Vaters, lang ist es her. Und ebenso lange hat dieser Revolver hier auf seinen Einsatz gewartet. Auch wenn ich ihn nun für den Sohn verwenden werde.
Wie lange wird es noch dauern? Meine Beine tragen mich nicht mehr so lange, aber meine Arme sind immer noch stark. Ich setze mich auf die Fensterbank und warte.


Es dämmert schon, als ich aus einem leichten Schlaf hochschrecke. Alle Knochen tun mir weh, und ich friere. Hinter dem Holunderstrauch ist nichts mehr zu sehen. Vielleicht hat mir ja die Müdigkeit einen Streich gespielt. Seit Hannes Tod habe ich kaum ein Auge zugetan. Seufzend taste ich mich zurück zum Bett. Ich sollte mich nach einer Pflegerin umsehen, die hier bei mir im Haus wohnt.

 

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