Nächtliches Gewitter.
Drei Uhr morgens. Im Autoradio hatten sie ein Unwetter vorhergesagt. Eigentlich hatte Marco gehofft, es noch rechtzeitig zu schaffen, aber nun, nur knapp dreißig Kilometer von seinem Ziel, musste er einsehen, dass es keinen Sinn mehr machte, noch weiter zu fahren.

Der Sturm peitschte den Regen in dicken Tropfen gegen die Windschutzscheibe. Das leise Grummeln, das schon seit längerem das drohende Gewitter angekündigt hatte, steigerte sich zu einer raschen Abfolge von Donnerschlägen. Das einzige, was er noch deutlich wahrnehmen konnte waren die Blitze, die jetzt Schlag auf Schlag über den Himmel zuckten.
Es hatte keinen Sinn weiter zu fahren. Bei diesen Sichtverhältnissen würde er früher oder später in der Leitplanke landen. Um diese Zeit war die Autobahn wie ausgestorben. Vorsichtig fuhr Marco auf die Standspur und blieb mit eingeschalteter Warnblinkanlage und brennenden Scheinwerfern stehen. Hoffentlich würde es bald vorbei sein.
Marco schob eine Kassette ein und kramte ein Bonbon aus dem Handschuhfach. Gerade wollte er den Fahrersitz in eine bequemere Position bringen, als jemand an das Fenster klopfte. Erschrocken fuhr er hoch. Im Scheinwerferlicht erkannte er eine triefnasse Person, die ihm verzweifelt Zeichen machte. Er beugte sich zur Beifahrertür hinüber und öffnete sie.
Es war ein Mädchen, soviel konnte er jetzt erkennen. Sie ließ sich in den Sitz fallen und brauchte einige Sekunden, bis ihr Atem wieder ruhiger ging. Sie war bis auf die Haut durchnässt. Schminke lief in Bächen ihr Gesicht herunter, vermischte sich mit dem Blut aus einer Platzwunde an der Stirn. Ihr Minikleid war zerrissen. Offensichtlich zitterte sie nicht nur vor Kälte sondern auch vor Angst.
"Hey, was ist denn passiert?"
Sie sah ihn ängstlich von der Seite an.
"Bin per Anhalter gefahren. Er ist über mich hergefallen. Konnte gerade noch aus dem Auto springen. Hab mich versteckt bis er weg war."
So gut es ging schälte sich Marco im Sitzen aus seiner Lederjacke und legte Sie dem Mädchen um. Dann drehte er die Heizung auf.
"Weißt du denn nicht, dass es gefährlich ist, per Anhalter zu fahren?"
Langsam ging ihr Atem ruhiger.
"Was soll ich denn machen? Anders kommt man hier eben nicht in die Disko wenn man keinen Führerschein hat. Und bisher ist ja auch noch nie was passiert." 
Er bot ihr ein Bonbon an und berührte dabei wie zufällig ihren Arm. Als sie zurückzuckte, lächelte er entschuldigend.
"Keine Angst, Kleine. Ich will nichts von dir. Aber hast du denn noch nicht von dem Vollmondmörder gehört, der hier in der Gegend sein Unwesen treibt? Hat schon drei junge Dinger auf dem Gewissen."
Sie zuckte die Achseln.
"Mein Vater hält mir diesen Vortrag auch jeden Samstag. Aber was solls? Ist heute vielleicht Vollmond?" 
Er lachte.
"Weißt du, manche Menschen ändern ihre Gewohnheiten..."
"Aber du bist nicht der Vollmondmörder, das weiß ich."
"Nett von dir, dass du das sagst."
"Hast du nicht was fetzigeres?"
Sie begann seine Kassetten zu durchstöbern, gab aber schon nach wenigen Minuten enttäuscht auf.
"Hörst du denn nur Schlager?"
Sie rümpfte die Nase.
"Sieh mal, der Regen wird weniger. Gleich kann ich dich zur Polizei bringen."
"Polizei?"
"Na, du musst den Kerl doch anzeigen, sieh doch, wie er dich zugerichtet hat."
Sie klappte die Sonnenblende herunter und besah sich im Licht der Innenbeleuchtung ihr Gesicht. 
"Ja, du hast Recht, dafür muss er bezahlen."
"Weißt du die Autonummer?"
"Nein, hab ich nicht drauf geachtet."
"Mensch, wenn du schon trampst, musst du doch wenigstens darauf achten. Wie ist es denn mit meinem Kennzeichen? Hast du dir das gemerkt?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Wie denn? Das konnte ich bei dem Regen doch gar nicht sehen."
Wieder lächelte er sie väterlich an.
"Du bist aber auch ein dummes, kleines Ding!"
"Du klingst ja schon fast so wie mein Vater. Man, was bist du denn? Ein Perverser? Jetzt fahr schon endlich los, das nieselt doch nur noch ein bisschen." 
Marcos linke tastete nach dem Knopf für die Zentralverriegelung. Dann griff er unter den Fahrersitz, bis er die kalte Klinge spürte. Dabei lächelte er immer noch. In Panik versuchte das Mädchen die Beifahrertür zu öffnen.
"Lass mich gehen, bitte. Ich hab dir doch gesagt, dass ich mir dein Kennzeichen nicht gemerkt habe. Und angesehen hab ich dich auch nicht. Bitte tu mir nichts."
"Keine Angst, meine kleine. Ich werde dich nicht vergewaltigen."
Für einen Moment schien sie erleichtert, dann erkannte sie das Messer, das er noch halb verborgen hielt und begriff."

Am nächsten Morgen saß Marco beim Frühstück und blätterte in der Zeitung. "Mordet Vollmondmörder jetzt auch bei Neumond?"
Er grinste selbstzufrieden. Komisch, das bisher noch niemandem aufgefallen war, dass die Tattage noch etwas anderes gemeinsam hatten. Bei Gewitter mordete es sich eben immer noch am besten. 

 

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