Ich glaub, mich knutscht ein Elch


Hell leuchtete der Vollmond über der Münsterstraße. Nachts um 2 Uhr war hier während der Woche wie üblich niemand zu sehen. Nur der Elch stand bronzen an seinem Stammplatz auf der Wiese.


Doch was war das? Hinter den Büschen kurz vor dem Straßenende. Ein Rascheln, das schnelle Aufblitzen eines Feuerzeugs und schon wäre keinem zufälligen Passanten mehr etwas aufgefallen.


Kevin hockte schon seit 45 Minuten in seinem Versteck und traute sich nicht, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Als er neulich zufällig den Bund mit den Schlüsseln zu der Wohnung wiedergefunden hatte, aus der er schon vor sieben Jahren mit einer Zwangsräumung geworfen worden war, schien alles so einfach.


Der Hausschlüssel würde immer noch auch für die Kellertür passen und sicher hatte niemand inzwischen das einfache Vorhängeschloss für den Kellerverschlag ausgetauscht. Dass die Witwe Klingebiel immer noch dort lebte hatte er schon in Erfahrung gebracht. Auch, dass sich ihre Demenz in den letzten Jahren nicht gebessert hatte.


Im Gegenteil. Sicher würde sie sich nicht mehr an den netten jungen Mann erinnern, der ihr immer gegen ein kleines Trinkgeld ein paar Kisten in den Keller gebracht und dabei ihre versteckte Schmuckschatulle gefunden hatte. Was sich darin befand hatte sie ihm freilich nicht verraten, aber Gerüchten zufolge sollte sie viel vermögender sein, als man bei ihren schäbigen, abgetragenen Kleidung vermutet hätte.


Verdammt, was hatte er schon zu verlieren? In zwei Stunden würden sich die ersten Bewohner auf den Weg zur Arbeit machen. Wenn er den Keller noch richtig durchsuchen wollte, musste er sich ran halten.


Kevin kroch hinter dem Strauch hervor und überquerte die Wiese. Hieß es nicht, dass es Glück brachte, wenn man bestimmte Statuen anfasste? Er bezweifelte, dass der Elch ein solcher Glücksbringer war, aber schaden konnte es auch nicht. Ein schnelles Streicheln über das linke Geweih, dann hastete er hinüber in die Paderborner Straße.


Ein Eichhörnchen kreuzte seinen Weg, aber sonst war auch hier alles ruhig. Hinter keinem der Fenster war Licht zu sehen. Kevin hastete gebückt zum Kellereingang von Nummer 5 und die drei Stufen nach unten. Auf einmal flammte Licht auf. Kevin erstarrte. Doch dann fiel es ihm wieder ein, die Häuser sollten ja vor kurzem renoviert worden sein. Sicher hatten sie einen Bewegungsmelder eingebaut, der sie Außenbeleuchtung aktivierte. Wenn nur der Schlüssel wirklich noch passte!


Glück gehabt. Kevin schob die Tür auf und schaute in die dunkle Waschküche. Wenn er jetzt nicht die Tür schloss, würde die Außenbeleuchtung möglicherweise auffallen, wenn doch jemand unerwartet vorbei kam. Er musste es riskieren, im Dunkeln zum Lichtschalter am anderen Ende des Raumes zu gehen. Was sollte da schon im Weg stehen?


Vorsichtig tastete er sich voran, so groß hatte er den Raum gar nicht in Erinnerung. Endlich hatte er die gegenüberliegende Wand mit dem Durchgang zum Kellerflur erreicht, aber so sehr er auch tastete, da war kein Lichtschalter. Was nun?


Soweit sich Kevin erinnerte, war der Kellerverschlag nur wenige Schritte nach links vom Durchgang entfernt und dort hatte es einen weiteren Schalter gegeben. Vorsichtig wagte er sich vorwärts und tatsächlich, da war wieder ein Durchlass, hinter der er die hölzerne Absicherung des kleinen Abteils fühlen konnte. Auch der Schalter war hier noch an der richtigen Stelle.


Das Licht ging an und beleuchtete ein wildes Sammelsurium an Kartons, Taschen und lose herumfliegenden Gegenständen aller Art. Wie sollte er in diesem Chaos das Schmuckkästchen finden, bevor die ersten Mieter herunter kamen?


Der rostige Schlüssel ließ sich zumindest problemlos in dem nicht minder alten Vorhängeschloss drehen. Kevin  begab sich in den hinteren Bereich des Abteils, wo er glaubte, das Kästchen vor  Jahren zuletzt gesehen zu haben.


Eine Staubwolke stieg vom Boden auf und brachte ihn ungewollt zum Niesen. Hoffentlich hatte das jetzt niemand gehört. Aber im Haus über ihm blieb alles ruhig.


Schließlich fand Kevin das Kästchen, das viel größer war, als er es in Erinnerung hatte. Die kunstvoll kitschigen Verzierungen auf dem Deckel waren ihm aber noch in guter Erinnerung. Das musste reichen, für die Suche nach weiteren Schätzen, von denen er nicht einmal wusste, ob es sie gab, blieb keine Zeit mehr.


Das Licht ließ er an, als er zurück zur Kellertür eilte. Unbemerkt gelangte er zu seinem Versteck an der Ecke Münsterstraße – Soester Straße, wo er sein Brecheisen zurückgelassen hatte. Übermütig winkte er seinem Glücksbringer dem Elch zu. Dann machte er sich daran, das Kästchen zu öffnen.


Von allen Schlössern, die er in dieser Nacht geöffnet hatte, machte dieses die größten Schwierigkeiten. Aber schließlich ließ sich der Deckel doch öffnen.


Fassungslos starrte Kevin auf den Inhalt. Möhren schienen es einmal gewesen zu sein. Verfaulte Kaninchenfutter, das einen gruseligen Geruch verströmte. Warum mochte die Witwe Klingebiel sie so sorgfältig gesichert haben? Er würde es nie erfahren, denn wie er Tage später aus dem Weser Kurier erfuhr, war die demente Dame just in dieser Nacht verstorben.


Auf dem Weg zurück zum Katechetischer Weg legte Kevin einen kurzen Stopp beim Elch ein und hielt ihm das Kästchen unter die bronzene Schnauze. Den werde ich noch mal streicheln, um Glück zu haben“, dachte er. „Ich glaub, mich knutscht ein Elch!“