"Josi, stell Dir vor, wer uns besuchen kommt!"
Fragend blickte die alte Dame im Rollstuhl von ihrer Zwillingsschwester zu dem jungen Mann und zurück.
"Ja siehst Du denn nicht die Ähnlichkeit? Das ist Hannes Enkel Lucas!"
Josefine Brettschneider lächelte dem Besucher entgegen.
"Wie schön, dass Sie uns besuchen!"
"Mein Großvater hat mir so viel von Ihnen erzählt, da musste ich Sie einfach sehen, jetzt wo ich zum Studium nach Deutschland gekommen bin."
"Wie schön, Sie sind uns herzlich willkommen. Wie geht es Ihrem Großvater denn?" "Er ist leider vor dreizehn Jahren gestorben."
Die Schwestern wechselten einen bedauernden Blick.
"Stell Dir vor, Josi, der Hannes ist damals nach Argentinien gegangen und hat ein riesiges Vermögen gemacht."
"Ja, aber leider hat mein Vater es dann innerhalb kürzester Zeit durchgebracht. Voriges Jahr hat er sich dann das Leben genommen, und meine Mutter starb schon bei meiner Geburt. Nun bin ich ganz alleine auf der Welt."
"Und da wollten Sie in die Heimat Ihrer Vorfahren zurückkehren, so ist es richtig! Aber Jolli, was sind wir denn für Gastgeber? Der junge Mann muss doch hungrig sein. Haben wir nicht noch etwas von dem Kuchen von gestern über? Sie müssen entschuldigen, junger Mann, aber meine Arthritis, ich kann schon seit langem nicht mehr gehen."
Jolanta Brettschneider verschwand eilfertig in der Küche, während Josefine ihrem Gast einen Platz auf dem Sofa anbot.
"Nun erzählen Sie doch mal, was hat Ihr Großvater Ihnen denn über uns berichtet?"
"Oh, dass er schwer verliebt war in Sie beide, und dass er sich nicht für eine von Ihnen entscheiden konnte. Das war ja das Problem, deshalb ist er ja auch abgehauen."
"So etwas habe ich befürchtet. Jaja, der Hannes, das war schon ein Schlawiner damals! Und was haben Sie nun vor?"
"Ich habe meine letzten Kröten zusammengekratzt um hierher zu kommen. Irgendeine Stellung werde ich schon finden, um mir das Studium zu finanzieren. Bis dahin komme ich sicher in einer billigen Pension unter." 
"Aber mein Junge, das kommt doch gar nicht in Frage! Sie werden selbstverständlich hier bei uns wohnen. Hier im Ort gibt es immer Arbeit für einen ehrgeizigen jungen Mann."
Lucas strahlte von einem Ohr zum anderen.
"Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden."
"Na, dann ist doch alles klar. Meine Schwester wird Ihnen nachher das Gästezimmer zeigen. Es ist leider im ersten Stock dorthin komme ich nicht mehr alleine."
Josi seufzte. "Die arme Jolli hat es nicht leicht. Das Haus macht viel Arbeit - und der Garten erst! Es ist ja nicht so, dass wir arm wären, aber das Hauspersonal ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Wenn man denen nicht ständig auf die Finger sieht, sitzen sie nur in einer Ecke herum und trinken Kaffee, während sich der Staub in den Ecken zu Bergen häuft. Gerade vorigen Monat mussten wir wieder eine Haushälterin entlassen. Stellen Sie sich vor, diese Irene hat doch tatsächlich in meinem Tagebuch geschnüffelt!" 
"Nicht möglich! Aber jetzt bin ich ja da, ich werde Ihnen viele schwere Arbeiten abnehmen können." 
"Das ist schön, mein Junge! Sehen Sie, da kommt Jolli mit dem Kuchen. Meine Schwester backt wirklich hervorragend!"
Offensichtlich heißhungrig machte sich Lucas über seinen Teller her.
"Oh, der war gut! Großvater hatte auch eine Schwäche für Pflaumenkuchen."
"Das wissen wir, mein lieber, das wissen wir! Siehst Du, Jolli, als wenn wir es geahnt hätten. Zuletzt hast Du dieses Rezept an dem Tag verwendet, an dem Hannes so unerwartet hier aus dem Dorf verschwand."
Jolanta lächelte Lucas gütig an.
"Ja, Josi, mir ist, als wäre es gestern gewesen. Und weißt Du noch, was der gute Hannes damals gesagt hat? Einen solchen Geschmack kriegte keine andere hin."
Sie kicherte. "Wollen wir unserem jungen Gast das Geheimrezept verraten?"
Josi nickte. "Eine gute Portion Rum. Sie verleiht dem Kuchen nicht nur die unverwechselbare Würze, sie überdeckt auch den Geschmack des Giftes das ich eben noch darübergestreut habe."
Lucas versuchte von seinem Platz aufzuspringen, aber schnell merkte er, dass er dazu nicht mehr in der Lage war. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, auch sein Gehirn wollte nicht mehr so recht funktionieren.
"Aber warum? Was habe ich Ihnen denn getan?"
"Sie sind ein mieser kleiner Betrüger. Sie können gar nicht der Enkel vom Hannes sein, denn den haben wir damals hier im Keller unseres Hauses einzementiert, als er uns sitzen lassen wollte. Nur gut, dass alle geglaubt haben, er sei ins Ausland abgehauen."
"Ja, ich gebe es ja zu. Ich habe mir den Plan mit Irene zusammen ausgedacht. Als sie die alten Tagebücher fand und von der alten Geschichte las, kam sie auf die Idee, ich könnte mich als Hannes Enkel hier bei Ihnen beliebt machen. Vielleicht würden Sie mir dann irgendwann alles vererben. Was ist denn schon dabei? Sie haben doch Geld wie Heu und keine Verwandten, soll das denn wirklich alles mal der Tierschutzverein kriegen?"
Immer leiser und schwächer wurde seine Stimme. Sein Körper war bereits auf dem Sofa zusammengesackt. Mit flehenden Augen sah er zu den beiden alten Damen auf.
"Bitte, es ist doch gar nichts passiert, niemand hat Schaden genommen! Rufen Sie einen Arzt! Ich will doch noch nicht sterben!"
Josi sah auf ihre Armbanduhr. "Dafür ist es bereits zu spät. Jetzt kann Ihnen niemand mehr helfen. Jolli, glaubst Du, Du kannst die Grube im Keller diesmal alleine ausheben? Was meinst Du, legen wir ihn direkt neben Hannes, Familienzusammenführung sozusagen. Ach nein, sie sind ja gar nicht miteinander verwandt. Aber egal, loswerden müssen wir ihn ja." 
Verzweifelt versuchte Lucas noch ein paar Worte zu stammeln, aber alles, was sich seiner Kehle entrang, war ein verzweifeltes Stöhnen.
"Der ist hinüber!", sagte Jolanta. "Ich gehe und hole das Werkzeug. Sieh Du inzwischen zu, dass Du diese Irene hierher lockst, wir müssen ihr ein Stück vom Pflaumenkuchen verpassen, bevor sie auf die Idee kommt nach ihrem Komplizen zu suchen."

 

Zufrieden lächelnd griff Josefine nach dem Telefonbuch. Bald würde die Welt wieder in Ordnung sein. 

 

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