„Hach, meine Elfriede.Was hat sie für wunderbare Haare. Ich bin ja so stolz auf sie. Sie wird es im Leben weit bringen. Einen gut situierten Mann, der Wert auf eine schöne Frau an seiner Seite legt und ihr zum Dank jeden Wunsch von den Augen abliest.“


Elfriede faltete sittsam die Hände im Schoß und verdrehte innerlich die Augen. Die Vorstellungen, die ihre Großmutter von ihrer Zukunft hatte, entsprachen so gar nicht ihren eigenen Ideen.


Seit drei Tagen waren sie beide jetzt auf Norderney. Wochenlang hatte Elfriede auf diesen Urlaub gefreut. Mit der alten Dame, die ihr die Eltern als Anstandswauwau mitgegeben hatten, hatte sie geglaubt, schon fertig zu werden. Und jetzt?


Statt Vergnügungen mit den anderen jungen Leuten gab es Besuche von Kurkonzerten, ausgedehnte Mittagsschläfchen der Großmutter, bei denen auch sie das Hotelzimmer nicht verlassen durfte, und höchstens mal einen kleinen, gemütlichen Spaziergang auf der Promenade. Natürlich mit Hut und Sonnenschirm, damit nur ja ihre Alabasterhaut nicht bräunte. Nicht gerade der Urlaubstraum eines Mädchens von 16 Jahren.


„Jeden Abend zähle ich mit, dass sie auch ja mindestens hundert Bürstenstriche macht und die Pracht auch richtig glänzt. Können Sie mir sagen, ob diese salzige Meerluft vielleicht schädlich für das Haar ist? Ich überlege, ob wir nicht lieber noch einen Schleier an den Hut machen sollten.“


Die beiden alten Damen, die sich gerade erst im Café Friedrich kennen gelernt hatten, fachsimpelten weiter. Elfriede sah sich gelangweilt im Café um. An der gegenüberliegenden Wand prangte ein großes Plakat.


„Internationaler Frisurenwettbewerb 17. - 18.03.1929 – wir suchen noch Modelle mit langen Haaren“.


Darunter prangte das Bild einer jungen Dame in Elfriedes Alter, die eine traumhaft schöne, modische Kurzhaarfrisur trug. Elfriede seufzte leise. Wenn sie der Großmutter doch nur lange genau entkommen konnte, um zu diesem Wettbewerb zu gehen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie viele Frauen inzwischen kurze Haare hatten.


Sie waren praktisch das Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit. Was sollte sie mit einem reichen Mann? Sie würde sich ihren Lebensunterhalt schon alleine verdienen, selbst wenn das bedeutete, dass sie Banken ausrauben musste.


Die Großmutter sah auf die Uhr.


„Oh, wir müssen gehen, gleich gibt es Mittagessen und dann brauche ich erst einmal meinen Mittagsschlaf. Vielleicht treffen wir uns ja heute Nachmittag wieder hier.“


Sie verabschiedeten sich von ihrer neuen Bekanntschaft und machten sich auf den Weg ins Hotel. Elfriede ging mit beschwingten Schritten. Sie hatte einen Entschluss gefasst.


„Großmütterchen?“ Elfriede hasste diese Anrede, aber sie wusste, dass sie damit alles erreichen konnte.


„Ja meine Kleine?“


„Heute Mittag veranstaltet die Kirche im Kurpark ein gemeinsames Singen. Ich würde so gerne hingehen. Du braucht ja deinen Schlaf, aber könnte ich nicht ausnahmsweise einmal alleine gehen? Ich verspreche auch, mich nur im Schatten und mich nicht von Männern ansprechen zu lassen.“


Gerührt sah die Großmutter ihre Enkelin an.


„Ach mein Kind, du hast so ein wunderbares Zeugnis aus dem Mädchenpensionat mitgebracht und warst die ganze Zeit so brav. Wenn es von der Kirche ist, kann ich ja gar nichts dagegen haben. Aber denk an deinen Sonnenschirm und den breitkrempigen Hut.


Voller Vorfreude machte sich Elfriede auf den Weg. Sie musste sich beeilen. Die Anmeldefrist für den Wettbewerb war fast vorbei. In einer halben Stunde mussten die Frisörmeister mit ihrer Arbeit vor der Jury beginnen und sie mussten fertig sein, bevor die Großmutter aufwachte und auf die Idee kam, auch zu der Singveranstaltung zu gehen.


Schnell war ein junger Mann gefunden, der  noch ein Modell suchte.


„Ich muss ihnen aber vorher sagen, dass meine Frisurenidee schon wirklich ausgefallen und kurz ist.“


„Je kürzer, desto besser.  Machen sie sie so ausgefallen wie möglich.“


Begeistert sah Elfriede zu, wie eine der langen Strähnen nach der Anderen zu Boden fiel und sich um ihr Gesicht ein Haarstil formte, der so aufsässig war, wie ihn sich Elfriede nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte ausmalen können.


Wie nicht anders zu erwarten, gewannen sie und ihr Frisör den ersten Preis. Das Publikum tobte vor Begeisterung und Elfriede platzte fast vor Stolz.  Nun musste sie sich aber wirklich beeilen, um wieder ins Hotel zu gelangen, bevor die Großmutter aufwachte.


Als Elfriede ihren Hut aufsetzte, überkam sie plötzlich Panik. So sehr hatte sie sich auf das Ergebnis ihres Streiches gefreut, dass sie gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie ihre strenge Familie auf diese Rebellion reagieren würde. Vorhin hatte sie noch leichtfertig gedacht, dass sie zur Not eben Banken würde ausrauben müssen, um ihr Leben zu finanzieren.


Bisher hatte sie im Pensionat nicht viel mehr als gutes Benehmen, Klavier spielen und ein bisschen Französisch gelernt. Aber die Fachkenntnisse für ihren neuen Beruf würde sie sich schon aneignen.