"Mensch Gitta, wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Wie geht es dir?"

Verwirrt starrte ich den Mann mit Halbglatze und Bierbauch an, der sich vor Begeisterung über das Wiedersehen fast überschlug. Ich hatte keine Ahnung, wer das sein sollte. Aber da er meinen Namen kannte, lag die Vermutung nahe, dass ich wir uns schon einmal begegnet waren.

"Oh danke. Lang, lang ist's her."

"Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein. Gibt es das Schedling noch?"

Schedling? Das war der Schimpfname für das Café gewesen, in dem wir während des Gymnasiums unsere Freistunden verbracht hatten. Ein alter Klassenkamerad also.

"Nein, das haben sie schon vor Jahren dicht gemacht. Lass uns doch ins Knigge gehen, das ist ja gleich hier um die Ecke."

"Oh ja, das Knigge. Das waren noch Zeiten, was?"

Er plapperte unaufhörlich, während wir die wenigen Schritte durch die Fußgängerzone gingen. Als wir das Café betraten, hielt er mir galant die Tür auf, nahm mir den Mantel ab, rückte einen Stuhl für mich zurecht - tat also alles, um mir so nahe wie möglich zu kommen. Der Geruch von Schweiß stieg mir in die Nase.

Während er am Buffet den Kuchen auswählte, wanderten meine Gedanken in die Vergangenheit. Oliver? Nein, den hatte ich erst kürzlich getroffen. Peter? Der sollte doch nach Amerika gezogen sein. Volker? Aber nein, der war viel größer gewesen.

"So, da bin ich wieder. Obsttörtchen waren leider aus. Ich habe für uns beide Schoko-Sahne genommen, das ist dir doch recht?"

Seufzend sah ich zu, wie er drei gehäufte Teelöffel Zucker in seinen Kaffee rührte und sich über seine Torte hermachte. Was für ein grässlicher Typ! Kein Wunder, dass ich mich nicht mehr an ihn erinnerte.

Micha? Die Figur kam hin, aber der sollte doch nach einem Unfall ein steifes Bein haben.

"Weißt du, dass ich immer für dich geschwärmt habe? Wir hatten ja nie viel miteinander zu tun, leider. Aber wie oft habe ich hier gesessen und gehofft, dass du auch wieder kommst. Wie hieß deine Freundin damals noch? Anja?"

Oh weh, dann hatte er sicher auch mitbekommen, warum wir uns die Nachmittage hier um die Ohren geschlagen hatten. Wenn ich das damals geahnt hätte. Er musste schon einer von der ganz unauffälligen Sorte gewesen sein, einer, den man gar nicht bemerkte. Ingo? Aber der hatte doch das dicke Geld gemacht und würde nie in solch schäbigen Klamotten herumlaufen.

"Weißt du, ich bin nur für ein paar Tage in der Stadt. Wollen wir nicht noch ins Kino gehen und anschließend etwas essen?"

Mit einem gut gespielten Seufzer erzählte ich von meinem Mann und meinen Drillingstöchtern, die zu Hause auf ihr Abendessen warteten. Wirklich schade, ich hätte mich ja so gerne noch länger mit ihm unterhalten. Vielleicht bei seinem nächsten Besuch?

Voller Genugtuung sah ich, dass die erfundene Familie seine Wirkung auf ihn nicht verfehlt hatte. Hastig bezahlte er und entschuldigte sich mit einer dringenden Verabredung, die er ganz vergessen hatte. Er würde sich wieder bei mir melden. Ich lehnte mich genüsslich in meinem Stuhl zurück und winkte ihm nach, als er zur nächsten Straßenbahn eilte. Dann entdeckte ich ein paar Schritte weiter Anja. Ich klopfte gegen die Scheibe und winkte ihr, zu mir zu kommen. Wenig später saßen wir zusammen in unserer Lieblingsnische.

"Gut, dass du kommst. Stell dir vor, was mir gerade passiert ist!"

"Später, weißt du denn, wen ich gerade gesehen habe? Da kommst du im Leben nicht drauf!"

Mir schwante, dass wir von der gleichen Person sprachen und dass sie mit ihrer Vermutung nur zu recht hatte.

"Was haben wir wegen dem hier für Geld gelassen. Und nie hat er uns beachtet."

Ohoh...

"Und die Sahnetorten aus der Zeit habe ich immer noch auf den Hüften!"

Scheibenkleister...

"Du, der hat sich eigentlich richtig gut gehalten, wenn ich an die anderen Typen aus der Klasse denke."

So ganz Unrecht hatte sie da eigentlich auch wieder nicht.

"Wäre er nicht so schnell verschwunden, du, ich glaube ich hätte ihn angesprochen. Aber bestimmt hätte er sowieso nicht mehr gewusst, wer ich bin."

Jetzt brauchte ich ganz dringend einen Schnaps.

"Ach Gitta, bei solchen Typen haben Mädels wie wir eben einfach keine Chance."

Ich nickte stumm. Bald darauf verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Heimweg. Aus der Nachttischschublade zog ich einen herzförmigen Fotorahmen, in den ich vor vielen Jahren den vergrößerten Ausschnitt eines Klassenfotos gesteckt hatte. Ja, wenn man genau hinsah, konnte man eine gewisse Ähnlichkeit feststellen - zwischen Karsten, dem Traummann meiner schlaflosen Jugendnächte und dem Krümelmonster von heute. Aber Anja hatte recht, wer sich so dämlich anstellte wie ich an diesem Nachmittag, der hatte solche Traumtypen gar nicht verdient. Ausgeträumt, dachte ich, als ich den Mülleimerdeckel über dem Bilderrahmen schloss.

 

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