Als der Morgen graut, wage ich mich endlich aus dem Haus. Der Sturm hat nachgelassen, nur mäßig schwappt das Meer gegen die Warft. Es ist noch einmal gut gegangen, diesmal sind die Häuser verschont geblieben. Ich mache meine Runde um die Nebengebäude. Zum Glück hat Hannes mir noch geholfen, das Vieh in Sicherheit zu bringen. Alles scheint in Ordnung. In meinem Leib bewegt sich das Kind. Nur noch drei Wochen. Die Aufräumarbeiten werden warten müssen, bis Jens von See zurück ist. Von ferne sehe ich eine Gestalt auf mich zu waten, das Wasser steht nur etwa eineinhalb Meter hoch.

"Stine!"
Jetzt kann ich ihn erkennen, es ist Hannes, mein Nachbar. Selbst aus dieser Entfernung kann ich sehen, dass etwas passiert sein muss. Ich raffe meine Röcke und gehe vorsichtig zum Saum des Wassers.
"Ein Unglück ist geschehen! Am Südufer haben sie Wrackteile der 'Antje' gefunden."
Mir wird schwarz vor Augen. Es darf nicht wahr sein. Nicht Jens. Nicht ausgerechnet jetzt.
"Es tut mir so leid, Stine."
Hannes nimmt mich in die Arme. Er weiß, wie ich mich fühle, seine beiden Söhne sind auf See geblieben, und Jens war immer wie ein Kind für ihn.
"Nein!" schreie ich, bevor ich das Bewusstsein verliere. Als ich wieder zu mir komme, liege ich in der Stube. Herta spricht mit besorgtem Gesicht mit Hannes, ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Was will sie hier? Es ist doch noch gar nicht so weit. Erst in drei Wochen soll das Kind kommen. Jens Sohn. Mit einem Mal kommt die Erinnerung zurück. Ich schluchze laut auf. Sofort ist die alte Hebamme bei mir.
"Stine, du musst jetzt stark sein. Denk an das Kind. In ihm wird Jens weiterleben."
Erst jetzt spüre ich die körperlichen Schmerzen. Sie hat Recht, es ist so weit. Still bete ich, bitte lieber Gott, nimm mir nicht auch noch das Kind. Die Zeit vergeht, die Abstände zwischen den Wehen werden immer kürzer, die Schmerzen stärker. Ich möchte schreien vor Leid und Einsamkeit, aber ich kriege keinen Ton heraus. Hannes ist gegangen. Sie wollen die Deiche erhöhen, der Sturm ist wieder stärker geworden. Wie viele Tote wird er diese Nacht fordern? 
Herta holt Petroleumlampen und schürt das Feuer. Ich sehe ihr an, dass sie sich fürchtet. Ich habe keine Angst. Jetzt nicht mehr. Die Nordsee hat mir alles genommen. Die Eltern, die Schwester, den Mann, den ich liebe. Verfluchte See.
Von draußen höre ich das Heulen des Sturmes, das Prasseln des Regens, aus dem Stall das verängstigte Muhen der Kühe. Die Zeit verrinnt.
Draußen ist es dunkel. Herta hat die Fensterläden geschlossen. Trotzdem höre ich, wie der Gischt gegen die Wände schlägt. Die Geburt geht nicht voran. Mir ist egal, was mit mir geschieht, aber ich habe Angst um das Kind. Es ist doch Jens Kind.
Gegen Morgen ist es endlich geschafft. Am Ende meiner Kräfte höre ich den ersten Schrei und Hertas erleichterte Stimme. 
"Es ist ein Mädchen, Stine."
Ein Mädchen. Jens hat sich eine Tochter gewünscht. Klara sollte sie heißen, wie seine Schwester. Weinend drücke ich das Kind an mich. Endlich hat Herta die Kleine versorgt. Sie reißt die Fensterläden auf.
"Der Sturm ist vorbei, Stine."
Erschöpft richte ich mich in den Kissen auf. Ein Sonnenstrahl stielt sich hinter einer Wolke hervor. Ich will ihn nicht sehen. Er erinnert mich an den Sommer, unsere Hochzeit, das Glück. Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Meer vor mir sehen, wie es jetzt aussieht. Still und friedlich, kein Hinweis auf das, was es in den letzten Tagen verschlungen hat.
"Du musst jetzt schlafen," sagt Herta. Ich bleibe hier und sorge für dich, so lange es nötig ist.
Endlich gelingt es mir einzuschlafen. Sind es Minuten? Sind es Stunden? Als ich aufwache, höre ich Stimmen. 
"Es ist die 'Swantje' von Pellworm. Heute früh wurde Hinnerk an Land gespült."
Arme Lina, denke ich im Halbschlaf. Auch sie ist also in dieser Nacht Witwe geworden.
"Und die Antje?"
Höre ich Hertas ängstliche Frage. Noch mag mein Verstand nicht begreifen, was das zu bedeuten hat. "Wir haben noch keine Nachricht, aber wie es aussieht, sind die Trümmer von der Swantje."

Herta und Hannes stehen wieder bei der Tür. Wenn ich den Kopf drehe, sehe ich Klara in ihrer Wiege liegen. Der Sonnenstrahl fällt jetzt genau auf ihre Bettdecke. Draußen ist es wieder still geworden. Das Meer zieht sich zurück, dorthin, woher es gekommen ist. Wir sind noch einmal davongekommen. Bald wird Jens zurück sein.

 

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