Erwin Reiter saß unter einer Palme und betrachtete das Meer, das sich an den Felsen vor der Küste brach. Sieben Jahre war es nun her, dass er auf dieser einsamen Insel gestrandet war, auf den Tag genau. Wieder einmal war der vierundzwanzigste Dezember gekommen, und Erwin hatte längst alle Hoffnung aufgegeben, jemals gerettet zu werden.

Missmutig dachte Erwin an die tropischen Früchte, die auch heute wieder sein ganzes Festtagsessen sein würden, weil er es in all den Jahren nicht geschafft hatte, Tiere erfolgreich zu jagen oder zu fischen. Die Sonne brannte erbarmungslos vom strahlendblauen Himmel, und Erwin wünschte sich nichts sehnlicher, als einen plötzlichen Temperatursturz. Wie schön hatten sie es früher gehabt, Vater, Mutter, Kinder und Großeltern versammelt in der guten Stube, leicht trunken vom Punsch 'Stille Nacht' singend. Ach wäre er jetzt doch bloß da!

Voll Wehmut erinnerte er sich an das Nikolauskostüm, in dem er Jahr um Jahr die Kinder erschreckt hatte, ein gestrenger Vater war er gewesen. Keiner seiner Lieben hatte seine Gaben ohne eine lange Strafrede erhalten. Ob sie ihn überhaupt vermissten? Wahrscheinlich sangen sie gerade in diesem Moment mit Inbrunst 'Oh du fröhliche' oder gar 'Lasst uns froh und munter sein', weil es auch diesmal keine Schelte geben würde. Verstohlen wischte sich Erwin eine Träne aus dem Augenwinkel. Gut, dass ihn hier niemand sehen konnte.

Und morgen würde dann die Verwandschaft kommen, seine Schwester Trude mit ihrem Mann Heino und den drei Blagen. Wie gewöhnlich würde sich Heino betrinken, und Trude würde davon schwärmen, dass sie im nächsten Jahr die Feiertage in der Karibik verbringen würden. Hätte sie dieses Versprechen doch nur schon vor langer Zeit wahr gemacht, dann wäre er damals nicht geflüchtet, erst auf das Kreuzfahrtschiff, und als auch dort die Bordkapelle ein frommes Lied nach dem anderen anstimmte, mit einem Rettungsboot alleine auf das Meer hinaus. Ach könnte er doch nur eines dieser Lieder noch einmal hören!

Leise begann er 'Was soll das bedeuten?' vor sich hinzusummen, den Text hatte er schon lange vergessen. Langsam wanderte sein Blick über den Horizont. Erwin zuckte zusammen. Kaum mochte er seinen Augen trauen. Gar nicht weit vor der Küste war tatsächlich ein Boot aufgetaucht. Eine Jacht um genau zu sein, genau so eine, von der Schwager Heino immer geträumt hatte.

Erwin sprang auf, und rannte hinunter zum Strand. In der einen Hand hielt er den Palmwedel, mit dem er sich eben noch Kühlung verschafft hatte, mit der anderen kramte er in der Tasche seiner mittlerweile zerschlissenen Anzugshose nach der letzten der Streichholzschachteln, die er damals von Bord hatte mitgehen lassen. In wenigen Sekunden hatte er das Häufchen Brennholz entfacht, dass er vor langer Zeit für ein Signalfeuer aufgeschichtet hatte. Jetzt sprang er den Strand entlang, schwenkte den Palmwedel und schrie aus Leibeskräften. Und das Wunder geschah.

Langsam drehte die Jacht zum Strand hin und kam immer näher. Schon konnte er mit bloßem Auge Gestalten an Deck erkennen, die ihm ihrerseits winkten. Er war gerettet!

...

Erwin saß in der Krone seiner Palme, aus Gras hatte er sich Ohrstöpsel gemacht, um endlich seine Ruhe zu haben. Wenn er nach unten blickte, konnte er seine Frau und die Kinder sehen, die mit Heino, Trude und ihren Blagen um die Nachbarspalme tanzten und dazu 'Kling Glöckchen klingelingeling' sangen, während Oma und Opa im Sand hockten, und dem muteren Treiben begeistert zusahen.

Auf den Tag genau sieben Jahre war es nun her, dass Heinos Jacht mit der ganzen Familie an Bord an den Felsen vor der Insel zerschellt war. Wenigstens hatten sie ein paar nützliche Dinge von Bord retten können. Erwin schloss die Augen und träumte von einem Kälteeinbruch.

 

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