Fred ist Rentner und verbringt seinen Vormittag häufig im Café. Dabei beobachtet er gerne seine Umgebung und genießt ganz in Ruhe einen Cappuccino. Plötzlich zuckt er zusammen und traut seinen Augen kaum als er den Mann an der Bushaltestelle gegenüber erkennt.


40 Jahre ist es nun her. Damals war Fred noch ganz neu beim Raubdezernat gewesen. Sieben Banküberfälle konnte man „Ede“, wie sie ihn heimlich getauft hatten, da sein richtiger Name nie festgestellt wurde, am Ende nachweisen, bevor er von der Bildfläche verschwand. 


Alt war er geworden, so wie Fred selbst auch. Die Bilder aus den Überwachungskameras der Banken hatten einen Mann so um die 30 gezeigt, dessen volles, brünettes Haar fast bis zu den Schultern reichte Seiner Zeit war er weit voraus gewesen, denn lange vor Beginn der aktuellen Pandemie hatte er versucht, sich mit einer medizinischen Maske unkenntlich zu machen. Hätte er gewusst, dass an seinem letzten Tatort auch im Vorraum des Kassenraums eine Kamera installiert war und wäre er nicht so unvorsichtig gewesen, die Maske vor dem Verlassen des Gebäudes abzusetzen, hätte wohl auch Fred ihn aus dieser Entfernung nicht erkannt.


All diese Gedanken schossen Fred durch den Kopf, während er irgendeinen Geldschein auf den Tisch des Cafés warf, seinen Blazer schnappte und zur Bushaltestelle rannte. Im letzten Moment gelang es ihm noch einzusteigen, bevor sich die Türen schlossen. Panisch sah er sich um. Ede war doch hoffentlich auch an Bord? Aber ja, ganz vorne saß er, in der einen Hand einen altmodischen Fotoapparat, in der anderen Hand einen noch altmodischeren Stadtplan. 


Fred überlegte. Die Taten waren natürlich längst verjährt. Wo mochte sich Ede all die Jahre herumgetrieben haben? War er auf Urlaub zurück gekommen? Um sich noch einmal an die Stätten seines großen Erfolgs zu erinnern? Mit grimmigem Lächeln dachte er an die App, mit der er seit Jahren die Fahndungsfotos seiner wenigen großen Misserfolge, der immer noch ungelösten Fälle, altern ließ. Ede sah genau so aus, wie ihn sich die App letzte Woche noch vorgestellt hatte. Nur die Haare waren noch dunkler – oder nutzte Ede einen Teil der Beute, um bei der Farbe ein bisschen nachzuhelfen? 


Wie viel war es noch zusammen gewesen? Mehr als 200.000 DM. Wenn er davon 40 Jahre lang gelebt hatte, musste Ede es entweder bei einer sehr überfallsicheren Bank angelegt oder noch sparsamer gelebt haben.


Der Bus bog um eine Ecke und Fred fiel es wie Schuppen von den Augen. Am Ende dieser Straße befand sich der erste Tatort, die größte Filiale der Sparkasse in der Stadt. Wollte Ede ein Erinnerungsfoto machen oder etwa an seine Erfolge von damals anknüpfen? Wie auch immer, Ede stieg an der Haltestelle kurz vor der Bank aus und Fred beeilte sich, ihm zu folgen. Eine Dame mit Pudel kreuzte seinen Weg und er war einen Moment abgelenkt, als der Hund Anstalten machte, sein Beinchen an ihm heben. Zum Glück zerrte ihn die Dame rechtzeitig an der Leine weiter.


Guten Tag. Wenn Sie mir schon folgen, warum gehen wir nicht ein Stück zusammen?“


Erschrocken sah Fred auf und direkt in das Gesicht von Ede.


Sie sind doch der Kommissar Backstein, der mich damals nicht erwischt hat, oder?“


Fred nickte langsam. War das nicht genau die Frage, die er eigentlich hätte stellen sollen? Sind Sie nicht der Bankräuber, der hier vor fast auf den Tag genau 44 Jahren abgesahnt hat?


Ede lachte. „Machen Sie sich nichts draus. Ich habe Ihre Karriere verfolgt, auch ohne mich zu schnappen haben Sie es ja ganz schön weit gebracht. Aber dass Sie mir jetzt nichts mehr anhaben können, wurmt Sie schon, oder?“


Fred nickte noch langsamer. 


Wollen wir uns nicht duzen, nachdem wir schon so alte Bekannte sind? Mein Name ist übrigens Eduard.“


Fred gluckste. „Weißt du, dass wir dich damals intern Ede genannt haben?“


Ede grinste. „Wie passend. Aber meinen Nachnamen oder meine jetzige Adresse verrate ich dir nicht. Aber keine Sorge, in den letzten 40 Jahren habe ich mir auch in meinem neuen Heimat nichts zu Schulden kommen lassen. Das habe ich gar nicht mehr nötig, weißt du? Ich habe damals nämlich geerbt.“


Auch eine Möglichkeit zu Geld zu kommen fiel Fred ein.


Und du bist nie wieder hier in der Stadt gewesen? Oder sind wir uns bloß nie über den Weg gelaufen?“


Das eine oder andere Mal war ich in den letzten 20 Jahren seit der Verjährung schon hier und wenn habe ich immer mal deine Nähe gesucht. Heute habe ich spontan beschlossen, endlich deine Bekanntschaft zu machen.“


Fred wurde es schummerig. 20 Jahre? Einem alten Fuchs wie ihm hätte das doch auffallen müssen. Wenn das seine jungen Kollegen wüssten, denen er immer Vorträge über die perfekte Tarnung beim Verfolgen von Verdächtigen gehalten hatte.


Hast du gar keine Fragen?“


Warum hast du damals PCR-Masken benutzt?“


Die Frage war ihm herausgerutscht, bevor er richtig hatte nachdenken können.


Ist das nicht lustig? Ede kicherte. „Heute könnte ich damit aus der Bank spazieren, ohne dass es jemandem auffiele. Aber ich will dir ehrlich antworten. Hauptberuflich war ich damals Hilfspfleger und kam kostenlos an die Dinger heran.“


Hattest du nie Angst, geschnappt zu werden?“


Zum ersten Mal zögerte Ede einen Moment.


Nicht wirklich, ich war jung und naiv und brauchte Geld. Da wusste ich ja noch nicht, dass mir ein ehemaliger Patient kurz nach dem letzten Coup mehr vermachen würde, als ich jemals würde ausgeben können.“


Hast du die Zweimille je ausgegeben?“


Nur einen kleinen Teil der Rest liegt zu Hause in meinem Safe. Als Andenken sozusagen. Heute könnte ich mit den ollen Märkern ja sowieso nichts mehr kaufen. Darf ich auch mal was fragen? Habt ihr wirklich nie auch nur den kleinsten Verdacht gehabt?“


Fred seufzte. „Nein. Trotz der lächerlichen Maskierung hat dich niemand auf den Fahndungsfotos erkannt. Deine Fingerabdrücke waren in keiner Kartei, du hast sie ja sogar großzügig verteilt. Deine Erscheinung – bitte nicht missverstehen – absolut durchschnittlich...“


Mit Hochachtung betrachtete Ede seine Fingerspitzen und schnalzte mit der Zunge.


Und dass die Knarre nichts als Knallerbsen ausspucken konnte ist auch nie jemandem aufgefallen. Bankräuber war eigentlich der perfekt Beruf für mich. Manchmal bedaure ich, dass ich ihn in Ermangelung von Gründen ihn auszuüben aufgegeben habe.“


Du bist also nicht zurück gekommen, um an die alten Erfolge anzuknüpfen?“


Ich? Nein. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit und ich will meine letzten Tage nicht im Knast verschimmeln. Wollte mir meine erste Wirkungsstätte nur noch ein letztes Mal ansehen – und das in Begleitung meines ältesten Bekannten.“


Scheu sah Fred ihn von der Seite an.


Nein, man sieht noch nichts, aber die Diagnose ist eindeutig. Zwei oder drei Monate, mehr nicht. Da helfen auch keine geerbten oder geraubten Millionen.“


Fast tat er ihm Leid, der Mann, den Fred seit 40 Jahren versuchte, zur Strecke zu bringen.


Sei nicht traurig. Was machst du denn jetzt, wenn dein liebstes Hobby, mich zu jagen, entfällt?“


Fred streckte den Rücken durch und hob das Kinn. Des Anderen Verhängnis würde seine neue Chance werden. Im Geiste sah er sich schon auf die Jagd nach Ganoven machen, deren Taten noch nicht verjährt waren.


Ede schien zu verstehen. Er nickte zufrieden. „Ja mach das mal. Und erzähl den bösen Buben, dass es viel einträglicher sein kann, sich gut um einsame alte Patienten mit viel Geld zu kümmern.“


Das mache ich. Schön, dich kennengelernt zu haben, das meine ich ganz ehrlich.“


Ehrlich? Und ich bin froh, dass diese Begegnung nicht schon vor 40 Jahren statt gefunden hat. Wenn einer mich hätte schnappen können, dann du.“


Fred reichte dem Anderen die Hand und dieser ergriff sie. So standen sie sich einen Moment lang gegenüber, der Jäger und der Gejagte.


Da vorne kommt der Bus zum Bahnhof. Das ist nur das erste Verkehrsmittel auf einer langen Reise.“


Fred sah dem Räuber nach, als er in die Linie 7 stieg und noch aus dem Fenster winkte. Ehrensache, dass er ihm nicht mehr folgte. Was hätte es auch gebracht? Dem konnte niemand mehr etwas anhaben. Aber gewusst hätte er schon gerne, wohin Ede sich auf den Weg machte.  Er zuckte die Achseln und kehrte zurück in das Café. Auf dieses Zusammentreffen brauchte er einen großen Cappuccino.