Guguck

Endlich setzte sich die „Vier“ wieder in Bewegung. Benny schaute den letzten beiden Kollegen nach, die in eine andere Straßenbahnlinie umsteigen mussten. Nur noch wenige Haltestellen und er hatte es geschafft.

Eigentlich hasste er ja den Herbst. Keine langen Abende mehr am Werdersee, keine Shorts, Tops und Flipflops mehr, sondern Kleidung mit langen Ärmeln und Beinen, nicht zu vergessen die dicke Jacke.  Und diese Woche wartete nicht einmal sein Freund zu Hause auf ihn, denn der war zu einer Fortbildung in Süddeutschland.

Heute jedoch hätte eigentlich der einzige Lichtblick der Woche werden sollen. Einer der wenigen Vorteile dieser Jahreszeit war, dass er wieder Zeit hatte, sich sein Lieblingssendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ anzusehen.

Fast hätte er es nicht mehr geschafft. Ausgerechnet heute nämlich hatten die dämlichen Bauarbeiter auf der Baustelle gleich neben seinem Arbeitsplatz mal wieder eine alte Bombe aus dem zweiten Weltkrieg ausgegraben. Inzwischen war das ja schon zur Routine geworden und so hatte der Chef bestimmt, dass sie alle in der Notunterkunft ausharren mussten, bis der Knallkörper entschärft war.

Dieses Mal war jedoch alles anders gewesen. Das Bombenräumkommando war einfach nicht in die Gänge gekommen und so hatte es weit über seinen Feierabend hinaus gedauert, bis man wieder ans südliche Weserufer gelangen konnte. So eine Gemeinheit. Aber wenn er sich jetzt richtig beeilte, dann schaffte er es noch bis zum Beginn der Sendung – oder wenigstens bis zum ersten Fall nach dem Rückblick.

Schon setzte sich die Bahn an der nächsten Haltestelle wieder in Bewegung, da klatschte etwas gleich neben ihm an die Fensterscheibe und eine laute Stimme rief „Guguck!“.

Benny drehte den Kopf um zu sehen, was da passiert war, aber draußen war es schon zu dunkel, um etwas zu erkennen. Er sah sich in der Bahn um. Außer ihm schien niemandem etwas aufgefallen zu sein. Gedankenverloren sah er wieder aus dem Fenster. Fast sah es so aus, als folgte der Radfahrer auf der anderen Straßenseite dem Zug und als winkte er jemandem zu. Immer kleiner wurde die Gestalt und schon bald war nichts mehr von ihr zu sehen.

Endlich erreichte die Vier seine Haltestelle und Benny eilte zu seiner Wohnung. Eigentlich hatte er sich ja auf dem Heimweg einen Döner holen wollen, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Naja, zur Not taten es auch Reiswaffeln auf dem Sofa. Im Hausflur hing ein Zettel von Frau Koch, dem Hausdrachen. Die Klingelanlage war mal wieder außer Betrieb. Egal, heute erwartete er ohnehin keinen Besuch und selbst wenn, bei Rudi Cerne durfte man ihn ohnehin nicht stören.

Mit einer Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und den letzten drei Reiswaffeln schmiss sich Benny vor den Fernseher. Ein Glück. Die Sendung hatte kam begonnen. Rudi begrüßte gerade die Zuschauer. Der Mann, der genau so aussah, wie der, mit dem sie den halben Sommer am See verbracht hatten, war offensichtlich doch nicht der Bankräuber aus der letzten Sendung, die er gesehen hatte, denn der war schon drei Wochen vor ihrem ersten Zusammentreffen in Untersuchungshaft gewandert. Schade! Mal sehen, ob er heute helfen konnte.

Der erste Filmbeitrag begann. Ein spannender Fall, der sich ganz in der Nähe abspielte. Ein verrückter Mörder, der bereits drei alleinstehende junge Männer im Bremer Umland in ihren Wohnungen überfallen und um die Ecke gebracht hatte. Mysteriös war, dass alle drei Opfer wie Benny im Hochparterre gewohnt hatten und dass sich jeweils an einem Fenster ihrer Wohnung von außen deutlich erkennbare Handabdrücke befanden. Zu ärgerlich, dass die dazugehörigen Fingerabdrücke in keiner Verbrecherkartei zu finden waren.

Die Sendung ging weiter. Benny saß wie gebannt vor dem Bildschirm.

„Patsch!“

Ein schmatzender Knall kam vom Wohnzimmerfenster. Benny hatte die Geschichte in der Straßenbahn schon fast wieder vergessen. Nur widerwillig drehte er den Blick von Rudis Kommentaren zum nächsten Fall. Bestimmt war wieder nur eine Taube gegen die Fensterscheibe geknallt. Das passierte hier öfter mal.

„Guguck!“

Sprachen Tauben jetzt Fremdsprachen? Wie Gurren hatte sich das nicht angehört. Schnell nahm er einen Schluck aus der Wasserflasche. Gerade wurde es wieder spannend.

„Peng!“

Lauter dieses Mal und härter, eher ein Knall, als der Aufprall eines weichen Körpers.

„Guguck! Guguck! Nun guck doch mal!“

Das durfte doch nicht wahr sein! Gerade fahndete Rudi nach einem Heiratsschwindler, der Bennys ehemaligem Mathelehrer verdächtig ähnlich sah, und ausgerechnet jetzt spielte da draußen jemand verrückt.

„Patsch! Peng! Patsch!“

In kurzer Folge erfolgten jetzt die Erschütterungen an der Scheibe. Und dazwischen immer wieder dieses mysteriöse ‚Guguck!‘. So langsam wurde es Benny doch mulmig. Wie war das vorhin mit den Handabdrücken an den Fenstern der ermordeten Männer gewesen?

Vorsichtig pirschte sich Benny ans Fenster und linste hinter der Gardine verborgen hinaus. Und genau in diesem Moment klatschte direkt vor seiner Nase eine Hand an die Scheibe. „Guguck! Guguck! Jetzt guck doch endlich! Warum guckst du denn nicht?“

Im trüben Licht der nächsten Straßenlaterne erkannte Benny eine Gestalt, die eine verdächtige Ähnlichkeit mit seiner Kollegin Martha hatte. Aber das konnte doch gar nicht sein. Martha das männermordende Monster aus XY? Wenn das die Anrufer beim Kundenservice wüssten! Aber ihm würde sie nicht gefährlich werden. Morgen wollte er sich überlegen, ob er seinen Verdacht der Polizei melden sollte oder nicht.

Mit einem entschlossenen Ruck zog Benny die Gardinen vor und stellte den Fernseher auf volle Lautstärke. Ein paar Mal klatschte und guguckte es draußen noch, dann war Ruhe. Benny entspannte sich.

Als Benny am Morgen in die Firma kam, konnte er über seine Panik vom Vorabend nur noch lachen. Die Idee, Martha könnte es auf ihn abgesehen gehabt haben, war aber auch zu absurd! Die Kollegin hätte schließlich seine Mutter sein können.

„Mensch Benny!“ Martha saß bereits an ihrem angestammten Platz im Callcenter. „Bist du eigentlich taub? Durch die halbe Stadt bin ich dir gestern hinterher geradelt, hab ewig nach deiner Wohnung gesucht geklingelt und geklopft, aber du hast nicht aufgemacht. Hast du gar nicht gemerkt, dass du das gestern in der Notunterkunft hast liegen lassen?“ Mit diesen Worten hielt sie ihm sein Handy hin, das Benny noch gar nicht vermisst hatte. Siedend heiß fiel Benny auf, dass sein Freund ihn am Vorabend auch gar nicht mehr angerufen hatte. Er beschloss, in Zukunft nicht mehr so viele Krimis im Fernsehen zu gucken.

 

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