"Wie konnte ich mich nur darauf einlassen, mit dir in den Urlaub zu fahren?"

Anke fiel eine ganze Reihe von Antworten auf Saskias Frage ein. Es war einfach bequem gewesen, sich um nichts kümmern zu müssen. Sie hatte das Ziel ausgewählt, das Ferienhaus gebucht, die Freundin hierher gefahren

Aber natürlich war das alles nicht gut genug gewesen. Die Ferienhaussiedlung in Dänemark, zu dieser Jahreszeit natürlich mehr oder weniger menschenleer, war Saskia zu langweilig, die Spaziergänge am Strand zu anstrengend, das Essen aus den mitgebrachten Konserven zu fade, die wenigen Restaurants dagegen zu teuer.

"Du wolltest mich doch auf dieser Reise begleiten. Dabei hast du genau gewusst, dass ich hier vor allem an meinem neuen Roman arbeiten wollte. Ich habe dir gleich gesagt, dass das hier nichts für dich ist. Aber du wusstest es ja mal wieder besser."

Anke hörte, wie Saskia im Eingangsbereich rumorte. Wenig später klappte die Haustür. Sie atmete erleichtert auf. Im Moment war es wirklich das beste, wenn sie sich nicht zu dicht auf der Pelle saßen. Gerade wollte sie an ihrem Manuskript weiterarbeiten, als sie hörte, wie vor dem Haus ihr Wagen angelassen wurde. Sie stürzte ans Fenster und sah gerade noch, wie Saskia mit Vollgas über den Schotterweg davon raste.

Ungläubig starrte sie eine Weile in die Dunkelheit. Was hatte Saskia vor? Wollte sie nur in der nächsten größeren Ortschaft einen draufmachen, oder fuhr sie auf direktem Weg zurück nach Hamburg? Zuzutrauen war ihr alles. Nebensächlichkeiten, wie dass das Auto Anke gehörte oder die Frage, wie diese jetzt von hier wegkommen sollte, würden sie kaum interessieren.

Anke zuckte die Schultern, im Moment konnte sie nichts anderes tun, als auf den Morgen zu warten. Das Ferienhaus lag einsam in den Dünen, zu Fuß würde sie den Weg zum Ort und zur nächsten Telefonzelle im Dunkeln nie finden, die einzige Taschenlampe lag im Handschuhfach und ihr Handy funktionierte im Ausland nicht. Vielleicht kam Saskia ja auch zurück, wenn sie sich erst einmal abgeregt hatte.

Sie nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich wieder an ihren Laptop, aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Immer wieder blickte sie zum Fenster. Es war erst neun Uhr abends, aber von der Umgebung war nichts mehr zu erkennen. Ihre nächsten Nachbarn waren am Vortag abgereist, und auch die anderen Ferienhäuser schienen leer zu stehen. Kein Licht weit und breit. Anke kniete sich vor den Kamin und legte einige Holzscheite nach. Trotz der elektrischen Heizung war ihr kalt.

‚Sei keine Idiotin', schalt sie sich innerlich. Im schlimmsten Fall musste sie eben morgen Volker anrufen, der würde sie dann abholen kommen. Und Saskia würde sie sich schon noch vornehmen. Es war ja nur für die eine Nacht. Überhaupt Saskia, mit ihr wäre sie hier auch nicht sicherer als alleine. Wovor hatte sie eigentlich Angst? Hatte sie etwa zu viele von ihren eigenen Krimis gelesen? Da draußen war nichts und niemand. Nur Dünen, das Meer, ein paar Vögel und leere Häuser.

Das Feuer wollte nicht so richtig brennen. Irgendwo unter dem Holz hatte sie doch noch ein paar alte Zeitungen gesehen. Anke kramte in der Kiste und zog schließlich eine ‚Bild' hervor, die wohl die letzten Gäste dagelassen hatten. Unwillkürlich sah sie auf das Datum, zweiter Januar, die waren über Silvester dagewesen, da war hier natürlich mehr los.

Gedankenverloren Riss sie die Seiten auseinander, als ihr Blick an einer der Schlagzeilen hängenblieb.

‚Versteckt sich Frauenmörder in Ferienhaussiedlung?'

Verdammt, warum ausgerechnet jetzt? Hastig überflog sie den Bericht über Wolfgang P., den vierfachen Frauenmörder aus Schleswig-Holstein, der Weihnachten aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Weihnachten, das war doch schon eine Ewigkeit her. Hatte man ihn inzwischen gefasst? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.

‚...Zeugen wollen P. gestern in Nörre Nebel/Dänemark gesehen haben, wo er einige Lebensmittel kaufte...'

Nörre Nebel, das war doch ganz in der Nähe. Was gab es denn für ein besseres Versteck als eine verlassene Ferienhaussiedlung im Winter? Panisch begann Anke nach weiteren alten Zeitungen zu suchen, aber es gab keine.

Draußen war inzwischen ein heftiger Wind aufgekommen, der dicke Regentropfen gegen die Fensterscheiben peitschte. Im Schornstein heulte es und das Feuer im Kamin war inzwischen ganz ausgegangen. Wenigstens war der Strom noch nicht ausgefallen, auch das kam hier gelegentlich vor, im letzten Winter mit Volker... Erschrocken sprang sie auf. Das Licht. Man konnte ja von weither erkennen, dass hier jemand war. Wenn dieser Wolfgang P. nun auf der Suche nach einem neuen Opfer war oder auch nur nach einem kostenlosen Essen oder nach einem Auto, mit dem er weiter fliehen konnte?

Sie löschte alle Lampen bis auf eine, warum musste dieses Haus auch in jedem Zimmer ein Fenster haben? Warum war sie nur hierher gekommen? Weshalb konnte sie nicht nach Mallorca fliegen wie alle anderen? Wie war sie bloß darauf verfallen Krimis zu schreiben? Verbrecher, Kriminelle, Mörder, die ihren Opfern an einsamen Stellen auflauerten, die nur auf eine Gelegenheit wie diese warteten.

Zitternd vor Angst und Kälte saß auf dem Boden des Wohnzimmers. Sie brauchte eine Waffe, sie musste sich unbedingt verteidigen können. Vorsichtig kroch sie zur Küchenzeile und begann in den Schubladen zu stöbern. Es gab nur ein einziges halbwegs vernünftiges Messer. Es war alt und nicht mehr besonders scharf, aber zur Not würde es gehen. Von welcher Seite würde er kommen? Entsetzt fiel ihr ein, dass Saskia möglicherweise gar nicht die Haustür abgeschlossen hatte. In panischem Schrecken stürzte sie in den Flur und drehte den Schlüssel zweimal um. Jetzt konnte sie nur noch warten.

Anke rollte sich auf dem Boden unter einer Wolldecke zusammen. Das Wohnzimmer war wenigstens ein bisschen wärmer als die beiden Schlafzimmer. Ängstlich lauschte sie auf die Geräusche von draußen, aber außer dem stetigen Prasseln des Regens und dem Heulen des Sturms war nichts zu hören. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Dreiundzwanzig Uhr dreißig. Wann mochte wohl Sonnenaufgang sein? Die Zeit schien still zu stehen und sie musste dringend auf die Toilette. Verdammt, warum hatte sie auch so viel Bier getrunken?

Vorsichtig kroch Anke in den dunklen Flur und zum Bad. Erst dort wagte sie es schließlich aufzustehen, zugleich warf sie einen Blick zurück aus dem Fenster.

Er war da draußen. Noch einige Meter entfernt zwar, aber sein Ziel war offensichtlich. Der Strahl einer starken Taschenlampe bewegte sich auf das Haus zu. Mit einem Schrei des Entsetzens stürzte Anke ins Bad und verriegelte die Tür. Zitternd sank sie auf den Toilettendeckel.

Draußen hörte sie jetzt andere Geräusche. Er schlich um das Haus, hämmerte an die Fenster und schrie mit heiserer Stimme ihren Namen. Woher kannte er ihn? Wieso hatte er sich ausgerechnet sie als Opfer ausgesucht? Die Schritte tappten auf der Holzveranda herum, kamen näher und näher. Dann klirrte das Fenster im Nebenzimmer.

 

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