"Jetzt hören Sie mir einmal zu, Frau Maibaum. Wir können diesen Mann doch nicht festnehmen, nur weil er an einer Straßenbahnhaltestelle steht. Was wird er da schon tun? Er wartet auf die Straßenbahn. Das ist genau so wenig ein Bankräuber, wie der Araber letzte Woche ein Terrorist war. Sie sehen sich einfach zu viele Krimis im Fernsehen an."

Ich legte den Hörer auf und kehrte zurück zu meinem Beobachtungsposten am Fenster. Dieser arrogante Polizist würde sich noch wundern. Ein Blick zur anderen Straßenseite zeigte mir, dass sich an der täglichen Routine nichts geändert hatte. Wie jeden Morgen stand er an der Haltestelle gegenüber und starrte unverwandt zur Sparkasse im Nachbarhaus. Er tauchte pünktlich um 8:35 auf, ließ Bahn auf Bahn vorbeifahren und verließ seinen Posten erst wieder um 9:05, also kurz nachdem die Bankfiliale geöffnet hatte. Mir war längst klar, was er im Schilde führte, auch wenn der Wachhabende mir nicht glauben wollte. Sicher würde es nur noch wenige Tage dauern, bis er den Überfall wagte. Ich dachte an die nette ältere Dame am Bankschalter. Was würde sie für einen Schock bekommen. Ich musste unbedingt etwas unternehmen. Kurz entschlossen schlüpfte ich in Mantel und Handschuhe, setzte meinen besten Hut auf und verließ das Haus.

Ich erreichte die Haltestelle gerade noch rechtzeitig, gemeinsam drängelten wir uns in die überfüllte Bahn. Ein netter Mann bot mir seinen Sitzplatz an, während der Bankräuber nur wenige Schritte von mir entfernt stand. Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Zu ärgerlich, jetzt hatte ich nichts zum Schreiben eingesteckt, aber Dank Klosterfrau Melissengeist funktioniert mein Gedächtnis immer noch hervorragend. Ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Er war auffallend groß und von sportlicher Statur. Einen Haarschnitt hätte er mal wieder vertragen können, lange, mausbraune Haare hingen ihm bis auf die Schultern und auf dem Rücken seiner schwarzen Jacke zeigten sich deutliche Spuren von Schuppen und Haarausfall. Seine Kleidung dagegen wirkte nicht ungepflegt. Wie jeden Tag trug er eine schwarze Stoffhose und einen Blazer und auch seine dunklen Halbschuhe glänzten frisch geputzt. Mit der rechten Hand hielt er sich an einer Stange fest und ich bemerkte, dass er keinen Ehering trug. Dafür entdeckte ich mitten auf seinem Handrücken ein auffallend großes Muttermal. Das würde sicherlich noch ein wichtiger Hinweis werden.

Die Bahn begann sich zu leeren, je weiter wir die Innenstadt hinter uns ließen. Schließlich fand auch der Räuber einen Sitzplatz nur zwei Reihen vor mir. Ich warf einen Blick auf die Liste der Haltestellen - noch acht bis zur Endstation. Diese Linie endete in einem Neubaugebiet am Stadtrand, in dem noch viele Häuser unbewohnt waren. Was mochte er dort wollen? Sicher traf er sich mit einem Komplizen. Mir wurde ein wenig mulmig. Aber nun war ich schon so weit gekommen, da würde ich die Verfolgung auch bis zum bitteren Ende fortsetzen.

Als wir die Endstation erreichten, waren der Räuber und ich als einzige Fahrgäste übrig geblieben. Der Straßenbahnfahrer fuhr zu einer Wendeschleife, um dort Pause zu machen. Nun war ich allein mit dem Gangster.

Zunächst schien er mich jedoch gar nicht zu bemerken. Er eilte an einer Reihe von Rohbauten entlang, sodass ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Seine Schritte waren weit ausladend und er schlenkerte beim Gehen mit seinen langen Armen. Wir durchquerten das Neubaugebiet und bogen mehrmals in andere Straßen ab. Schon bald hatte ich vollkommen die Orientierung verloren. Offenbar kannte er sich in dieser Gegend aber auch nicht besonders gut aus. Mehrmals blieb er stehen, als müsse er überlegen, wo es nun entlang ging. So hatte ich jedes Mal Gelegenheit, wieder ein wenig aufzuholen. Zu meinem Glück wandte er sich jedoch nie um. Schließlich waren wir am Ende einer Straße angelangt, wo sich nur noch ein einsames Feld befand. Wieder blieb er stehen und begann in den Taschen seines Blazers zu kramen. Ich drückte mich hinter einen einsamen Bauwagen am Straßenrand und linste vorsichtig um die Ecke. Er hatte einen Zettel hervorgezogen, den er nun aufmerksam studierte. Dann blickte er an dem Rohbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinauf und schritt schließlich zielstrebig auf den Eingang zu. Was sollte ich tun? Wenn ich hier stehen blieb, hatte ich nicht genügend Beweise, um die Polizei zu überzeugen. Noch zögerte ich - da hörte ich plötzlich ein unerwartetes Geräusch. Langsam bog ein zerbeultes schwarzes Auto um die Ecke. Der Wagen war auffallend verdreckt, das Nummernschild war so verschmiert, dass man es nicht lesen konnte. Der Motor stotterte und die Bremsen quietschten, als das Fahrzeug nur wenige Meter von mir entfernt zum Stehen kam. Voller Entsetzen wurde mir klar, dass der Fahrer mich genau im Blickfeld haben musste. Jeden Moment würde es nun mit mir vorbei sein. Gelähmt vor Angst beobachtete ich, wie sich die Fahrertür quietschend öffnete und ein Mann ausstieg, der seinen Komplizen sogar noch um einige Zentimeter zu überragen schien. Er warf einen Blick in meine Richtung und kam auch mich zu.

"Was ist los, Oma?" fragte er. Den Akzent kannte ich aus dem Fernsehen, es musste sich um einen Osteuropäer handeln. Vermutlich ein Mitglied der Russenmafia. Sein Kopf war kahl geschoren und auf seiner linken Wange prangte eine lange Narbe. In beiden Ohren trug er einen Stecker. Seine Kleidung war schwarz, wie die seines Komplizen. Allerdings trug er einen weiten Mantel, dessen rechte Tasche sich auffällig beulte. Sicherlich versteckte er darin einen Revolver. Jeden Moment würde er ihn ziehen und auf mich richten. Mir schlackerten die Knie und ich brachte keinen Ton heraus.

"Ey Erwin, komm mal schnell. Ich hab hier ein altes Muttchen, das nicht weiß, was es will. Was machen wir denn nun mit der?"

Aus dem Rohbau kam mein Räuber. Er musterte mich von oben bis unten, dann nickte er.

"Die Alte saß mit mir in der Straßenbahn. Die hat bestimmt nur Alzheimer oder so. Bring sie zurück zur Haltestelle und pass auf, dass sie auch einsteigt."

Der Mafioso hielt mir mit der linken Hand die Beifahrertür auf. Seine Rechte steckte in der Manteltasche und ich verstand die Drohung. Gehorsam stieg ich ein und wir kehrten zurück zur Endstation.

"So Muttchen, da steht ja schon das Bähnchen. Jetzt steig schön ein. Weißt du wenigstens, wo du raus musst? Wenn nicht, frag den Fahrer, der hilft dir schon."

Er half mir noch in die Bahn und verschwand. Natürlich ging ich zielstrebig zum nächsten Polizeirevier. Aber wieder einmal wollte mir niemand glauben.

"Frau Maibaum, wir haben Wichtigeres zu tun, als Ihren Hirngespinsten hinterher zu rennen. Russenmafia, das glauben Sie doch selber nicht."

Selber Schuld kann ich da nur sagen. Die werden sich schön ärgern, wenn der Typ mit den Schuppen die Sparkasse überfällt, sie hätten es ja verhindern können. Ich hoffe sehr, dass ich diesen Tag noch miterlebe.

 

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