Ich war immer der Ansicht, man müsse im Leben alles einmal ausprobiert haben. Im Grunde bin ich ja ein eher konventioneller Typ, aber gelegentlich breche auch ich mal aus meinem Alltag aus. 

Letzten Montag zum Beispiel fiel mir beim Frühstück ein, dass ich immer noch kein Bahnhofsklo benutzt hatte. Auch wenn Sie das vielleicht nicht verstehen - diese Bildungslücke machte mir noch den Rest des Tages zu schaffen, zumal diese Örtlichkeit mein ganzes Leben lang eine gewisse Faszination auf mich ausübte.
Als Kind bin ich oft mit meiner Mutter Zug gefahren, und während wir dann auf den Anschlusszug warteten, beobachtete ich die Damen und Herren, die in unregelmäßigen Abständen einen gewissen Ort aufsuchten und wieder verließen. 
"Mama!" Sagte ich.
"Warum müssen diese Leute denn alle so dringend zum Klo?"
Dann bekam meine Mutter einen roten Kopf und zog mich ein bisschen weiter fort.
"Die haben im Zug zu viel getrunken."
"Ich habe auch Brause getrunken, Mama, ich muss auch mal!"
"Warte, bis wir im Zug sitzen." sagte meine Mutter dann.
"Kinder gehen besser im Zug aufs Klo. Da ist es auch viel sauberer. Bahnhofsklos sind bäbä."
‚Bäbä' sagte sie natürlich nur, als ich noch ganz klein war. Trotzdem hatte ich mein Leben lang ‚Bahnhofsklos' als ‚bäbä' empfunden. Aber was war eigentlich ‚bäbä'? Ich hatte es nie herausgefunden. 
Mit meinem Vater bin ich nur ein Mal Zug gefahren. Er mochte keine Bahnhöfe. Warum habe ich nie erfahren. Aber er hatte es immer sehr mit der Moral und der Bibel.
"Nein!"
Sagte er energisch, als sich bei mir ein dringendes Bedürfnis meldete. Vielleicht hätte ich im Speisewagen kein Sauerkraut essen sollen. Auf jeden Fall, ‚bäbä' hin oder her, hielt ich meine Lage an diesem Tag für misslich genug, um eine Ausnahme zu rechtfertigen.
"Niemals lasse ich dich auf das Bahnhofsklo. Das ist ein böser Ort, verrucht und verdorben. Da könnte ich dich ja gleich in die Hölle schicken." 
Vor Schreck vergaß ich mein Bauchgrimmen. Was die Hölle ist wusste ich jedenfalls, das hatte mir mein Vater oft genug erzählt.
Dann war der Tag gekommen, an dem ich zum ersten Mal alleine mit dem Zug zu meiner Tante in Bayern verreisen durfte. Ich kann mich noch genau erinnern, es war wenige Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag. Vor meiner Abfahrt hatte meine Mutter mir ein Päckchen mit Stullen und eine Caprisonne zugesteckt. Dann hatte sie mich an sich gedrückt, und ich meinte, in ihren Augen Tränen zu entdecken.
"Sohn!" Sagte sie. "Heute gehst du alleine hinaus in die große weite Welt. Mein kleiner Junge ist zum Mann geworden. Ich bin so stolz auf dich."
"Ja, Mama." Antwortete ich brav.
"Mach dir keine Sorgen, ich komme schon zurecht."Noch einmal drückte sie mich an sich und küsste mich auf die Stirn.
"Und eines musst du mir versprechen, Junge, egal was passiert, benutze niemals ein Bahnhofsklo." 
Ich versprach es ihr, und bis zu diesem Montag habe ich mich an dieses Versprechen gehalten. Nach zwei Jahren bin ich auch gar nicht mehr in Versuchung gekommen, denn zu meinem achtzehnten Geburtstag bekam ich mein erstes Auto.
"Damit du nicht in Versuchung kommst."
Sagte mein Vater. Gegen Autobahnraststätten schien er nichts zu haben. Seit diesem Tag sind zehn Jahre vergangen, letzte Woche bin ich von zu Hause ausgezogen. Da dachte ich, dass es an der Zeit sei, mir diesen Ort des ‚Bäbäs' und der Sünde einmal näher anzusehen. Heute habe ich es getan.
"Und dann?" Fragte der Teufel.
"Dann habe ich es gesehen." Murmelte ich verschämt.
"Was gesehen?"
"Na, die Schmierereien an den Klowänden."
"Aber was ist denn daran so schlimm?" Fragte der Teufel.
"Die gibt es doch auf allen öffentlichen Toiletten. Ich weiß wirklich nicht, warum sie dich zu mir runtergeschickt haben." 
Verschämt senkte ich den Kopf und dachte an einen verblichenen Schriftzug ganz in der Ecke der Klokabine. ‚Heißer Sex am Telefon'. Die Telefonnummer dahinter kannte ich, bis letzte Woche war sie meine eigene gewesen. 

 

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