"Au!" Gudrun sah sich im Hinterhof um. In einer Ecke spielten die Schulze-Kinder, aber keines von ihnen sah so aus, als hätte es Schmerzen. Sie zuckte die Achseln und schlug erneut zu. "Au!!!" Erschrocken schaute Gudrun an dem Haus hoch, in dem sie wohnte. Ob sich da jemand einen Scherz mit ihr erlaubte? Aber auf allen Balkonen und hinter allen Fensterscheiben war niemand zu sehen. Es war Abendbrotszeit, aber Gudrun hatte noch zu tun. Sie musste mit ihrer Arbeit fertig werden, bevor Jochen von seiner Tour kam. Wieder holte sie aus und schlug mit aller Wucht auf ihr Opfer ein, das sie über die Teppichstange gehängt hatte. Eine weitere dichte Staubwolke stieg auf und noch bevor Gudrun wieder sehen konnte, hörte sie die Stimme erneut. "Au, verdammt noch mal, was habe ich dir denn getan, dass du mich und mein Zuhause zusammenschlägst?" Als sich der Staub endlich legte, sah Gudrun ein winziges Männchen, das genau dort stand, wo der Teppich auf der Stange lag. Seine Augen blitzten rot. "Entschuldige, Kleiner, ich habe diesen Teppich heute auf dem Flohmarkt gekauft und muss ihn jetzt entstauben, bevor mein Mann kommt. Er hasst es, wenn etwas nicht tiptop sauber ist." "Haut er dann zu?", fragte das Männchen und starrte durchdringend auf die große Sonnenbrille, mit der Gudrun versucht hatte, ihr Veilchen am linken Auge zu verbergen. "Und weil du niemanden hast, den du verhauen kannst, nimmst du dir einen armen alten Teppich vor und weckst ein Wichtelmännchen wie mich aus seinem tausendjährigen Schlaf." Jetzt hörte sich der Kleine schon nicht mehr böse an, eher mitleidig. Gefährlich konnte er ihr sowieso nicht werden. Endlich hatte Gudrun jemanden getroffen, dem sie körperlich überlegen war. "Wie auch immer", tönte das Männchen, das mittlerweile auf der Gardinenstange saß und mit den Beinen baumelte. Du hast mich aus diesem Teppich befreit, und jetzt muss ich dir drei Wünsche erfüllen. Also bitteschön, was willst du haben?" Gudrun überlegte. Eigentlich hatte sie ja schon alles, was sie unbedingt brauchte. "Sag mal, muss es etwas sein, das ich bekomme, oder darf ich mir auch wünschen, dass etwas verschwindet?" Das Männchen kicherte. "Auf die Frage habe ich schon gewartet. Du willst also deinen Ollen loswerden?" Gudrun nickte. "Na gut, wie du willst. Wie soll ich es denn machen?" "Das überlasse ich ganz dir." "OK", nickte das Männchen. Verlass dich drauf, der kommt nicht mehr zurück. Und die anderen Wünsche?" "Muss ich die jetzt sagen, oder kann ich mir das noch überlegen?" "Das kannst du, aber sei vorsichtig. Wenn du von nun an einen Wunsch aussprichst, wird er sofort in Erfüllung gehen." Mit diesen Worten verschwand das Männchen wieder in den Tiefen der Teppichfasern. Vorsichtig trug Gudrun ihren Schatz in die Wohnung zurück. Die folgenden Tage erwiesen sich als ausgesprochen erholsam. Wie versprochen hörte Gudrun von Jochen nichts mehr. Dafür entdeckte sie die Aktien, für die ihr Mann im Laufe der Jahre ein beachtliches Vermögen ausgegeben hatte. Für den Rest ihres Lebens würde sie keine finanziellen Sorgen mehr haben. Ein Glück, dass Jochen überall so unbeliebt war, dass niemand ihn ernsthaft vermissen würde. Das Veilchen war schon fast verblasst und Gudrun hatte gerade damit begonnen, die Wohnung neu einzurichten, als es eines Morgens an der Tür klingelte. "Frau Müller? Polizei, dürfen wir hereinkommen?" Mist, sollte doch jemand Verdacht geschöpft haben? Gudrun ließ die beiden Beamten ein. "Wir haben eine schlechte Nachricht für Sie, ihr Mann wurde heute früh tot im Wald gefunden." "Oh", machte Gudrun, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. "Haben Sie ihn denn gar nicht vermisst?" "Wenn er auf Sauftour war, konnte er schon mal ein bis zwei Wochen verschwinden, das war bei Jochen nichts Ungewöhnliches. Hat denn seine Leber versagt?" "Nein. Ihr Mann wurde erschossen." "Oh", machte Gudrun wieder. Das hatte sie eigentlich nicht gemeint, als sie dem Männchen die Wahl ließ, wie es Jochen loswurde. Die Beamten stellten noch einige Fragen und gingen. Gudrun hastete in ihr Schlafzimmer, wo der Teppich einen Ehrenplatz in einer dunklen Ecke gefunden hatte. "Hey, Männchen! So haben wir aber nicht gewettet." Sie schüttelte den Teppich, bis ihr kleiner Freund herausgepurzelt kam. "Was hast du nicht gewollt? Sei ehrlich, du hast ihn dir doch tot gewünscht. Ich habe dich gewarnt, ich kann deine Gedanken genau interpretieren." "Ach ich wünschte, der Jochen wäre nach Australien abgehauen oder nach Timbuktu. Jetzt suchen sie doch jemandem, dem sie den Mord anhängen können." "Wie du wünschst, aber denk daran, überleg dir beim dritten Mal vorher, bevor du einen Wunsch aussprichst." Das Männchen verschwand wieder in seinem Teppich und Gudrun schlug erschrocken eine Hand vor den Mund. Was hatte das jetzt zu bedeuten? Lebte Jochen noch? Und wenn ja wo? Und würde er nun vielleicht doch zurückkommen? Gudrun beschloss, erst einmal eine Kreuzfahrt zu machen, zum Nordkap, weit weg von Australien und Timbuktu. Auf ihrer Reise war Gudrun einfach nur wunschlos glücklich. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sie Zeit und Geld, um nur das zu tun, was ihr gefiel. Sie besah sich die Naturschönheiten Norwegens und vergaß darüber den Teppich. Doch leider geht auch der schönste Urlaub einmal zu Ende. Auf der einen Seite bedauerte sie es, in ihre armselige Wohnung zurückkehren zu müssen, in der sie alles an Jochen erinnerte. Auf der anderen Seite wurde es aber auch höchste Zeit, ein paar von den Aktien zu verkaufen. Von Jochens Sparguthaben war nicht mehr viel übrig geblieben. Zuhause angekommen öffnete sie erst einmal die Balkontür, ließ sich in einen der neuen Sessel fallen und begann zu überlegen, wie sie ihren letzten Wunsch am besten einsetzen sollte. Einen neuen Mann, treu, abstinent und ein Gegner von Gewalt? Ein schickes Häuschen, sodass sie dafür nicht ihr Aktienkapital anbrechen musste? Noch war sie zu keinem Entschluss gekommen, als es an der Tür klingelte. "Frau Müller? Huber, Gerichtsvollzieher. Ihr verschollener Mann ist bei diversen Banken und Firmen hoch verschuldet. Nachdem wir ihn nicht finden können, müssen wir uns wohl an Sie halten." Erhobenen Hauptes holte Gudrun die Aktien, die sie unter ihrer Unterwäsche versteckt hatte. "Sehen Sie? Krüger KG. Die sind gut und gerne ihre Million wert." "Krü?", der amtliche Herr lachte nur. "Die haben vorige Woche Konkurs angemeldet. Diese Aktien sind nicht mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind." "Verdammt, ich wünschte, ich hätte diesen Teppich nie gekauft", schrie Gudrun und fühlte im selben Moment eine Faust auf ihrem rechten Auge landen. "Du dumme Schlampe, habe ich dir nicht gesagt, du sollst einen billigen Teppich kaufen, mit dem wir die durchgewetzte Stelle im Wohnzimmer verdecken können?" Sie blinzelte und sah nun Jochen vor sich. Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Sie stolperte ins Wohnzimmer, und sah gerade noch, wie der Teppich aus der offenen Balkontür verschwand. Irgendwo hörte sie leise das Männchen kichern. 

 

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